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Seine Lippen waren kalt wie Schnee, aber jenseits der Lippen lag die Wärme von samtenem rotem Stoff, Stoff auf dem nächtlichen Deck eines Schiffes. Sie spürte seine Zunge und dachte an den Wolf. Und wenn es wahr ist, dachte sie, wenn das Märchen wahr ist? Ein Genickschuss und ein tödlicher Biss in den Nacken. Alles stimmt. Und wenn ich einen Mörder küsse?
Anna und Abel – eine Liebe, die über alle Zweifel siegt und in der das Unmögliche möglich ist.

 

Der_Maerchenerzaehler 

Originaltitel: Der Märchenerzähler
Autor: Antonia Michaelis
Verlag: Oetinger
Erschienen: Februar 2011
ISBN: 9783789142895 
Seitenzahl: 446 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Eldena, am Greifswalder Bodden. Anna und Abel, beide 17 Jahre alt, sind in den Abiturvorbereitungen. Er ist erst in der 11. Klasse dazugestoßen, ein Außenseiter, der nur mit Tannatek, seinem Nachnamen, oder aber als „polnischer Kurzwarenhändler“ betitelt wird. Anna, aus wohlbehütetem Hause, findet Interesse an ihm, versucht ihm näherzukommen, ihm und seiner kleinen Schwester Micha. Bald schon verbringt sie mehr Zeit mit ihnen, als mit allem Bisherigen. Sie erfährt von seiner Lebenssituation, die Mutter verschwunden, in ärmlichen Verhältnissen, gezwungen, Geld zu beschaffen, auch auf illegalem Wege, als Dealer. Ihre bisher so heile Welt trifft auf seine so völlig andere, in die sie mehr und mehr hineingerät. Er erzählt zunächst seiner kleinen Schwester, dann auch ihr eine Geschichte über die kleine Klippenkönigin, deren Insel untergeht und die sich mit Hilfe eines Seelöwen auf ein Schiff rettet und kommenden Gefahren trotzt. Sie begegnen dem Leuchtturmwärter, dem roten Jäger, dem Rosenmädchen, der weißen Katze. Sie gelangen zur Insel der Fragenden und der Antwortenden und auch zur Insel des Mörders. Die Ebenen vermischen sich. Bald wird klar, dass der Märchenerzähler seine reale Lebenswelt schildert, die Märchenfiguren Micha, Anna und Abel darstellen. Doch wohin führt er alle und was bleibt am Ende? Eine Geschichte, die den Leser in eine völlig andere Welt entführt, gebannt dem Märchen folgend und immer mehr erkennend, dass es zu keinem guten Ende führen kann.


Stil und Sprache

Antonia Michaelis verwebt die beiden Ebenen - die Realität der Jugendlichen und die Geschichte des Märchens - in unglaublich gekonnter Weise. Am Anfang noch nebeneinander stehend, verschmelzen sie immer mehr miteinander und führen unaufhaltsam zum Ende. Sie schreibt in der dritten Person, oft aus der Sicht und Gefühlswelt Annas, aber auch Abels. Der Leser steht fasziniert daneben, beobachtet das Geschehen, ahnt von Anfang an nichts Gutes, sieht das Schicksal seinen Lauf nehmen und kann doch nicht mehr aufhören, ihm zu folgen.
Von Anfang bis Ende sehr berührend geschrieben, kann man dieses Buch nicht mehr beiseite legen. Man fühlt mit den Protagonisten, ist unglaublich gefesselt. Auch baut die Autorin hin und wieder Songtexte von Leonard Cohen ein, sehr passend gewählt rund um das Thema Jugend und Liebe. Das Leben der Jugendlichen gespiegelt in der Geschichte des Märchenerzählers, der kleinen Micha erzählt und dem Leser so nahegebracht. Eine schöne Idee und auch sehr gelungen umgesetzt. Es gibt jedoch ein großes Aber: eine Szene, die schockiert und ab deren Moment ich das gesamte Buch in einem anderen Licht sah. Die Szene in dem Bootshaus, als Annas Unschuld, Unwissenheit und Verletzlichkeit ungebremst auf Abels Realität stößt. Die Autorin beschreibt sehr detailliert und ohne Schonung eine Vergewaltigung. Sie beschreibt Annas Gefühle dabei und danach, ihre völlig unpassende Einschätzung einer Mitschuld, ihr Schweigen ihren Freunden und Eltern gegenüber und schließlich ihrem Verzeihen. Aus meiner Sicht eine gefährliche Gratwanderung der Autorin. Im Blicklicht eines Märchens, das alles eher unwirklich erscheinen lässt, vieles abschirmt und nur andeutet, tritt plötzlich eine mehr als reale und zutiefst verabscheuungswürdige Handlung in den Mittelpunkt. Ab dieser Szene hatte ich Probleme mit der toleranten und alles verzeihenden und duldenden Grundhaltung Annas gegenüber Abels Handeln, seinem Dealen, seinem Arbeiten als Stricher und auch seiner Art und Weise, wie er „Gegner“ beseitigt. So schön die Geschichte erzählt und die alles verzeihende und duldende Liebe über alles gestellt wird, hier geht die Autorin eindeutig zu weit und die zugrundeliegende Botschaft fehl. Manche Dinge sind weder verzeihbar noch wieder gut zu machen, auch und gerade dann nicht, wenn man sich liebt. Für jugendliche Leser ist die ganze Geschichte sicherlich faszinierend, berührend, mitreißend, dennoch sollte man als Autor genau bedenken, welche Botschaft man gerade der Jugend übermitteln will und ob man dies so vertreten kann.


Figuren

An erster Stelle steht Abel Tannatek, der polnische Kurzwarenhändler, der Märchenerzähler. Als Kind missbraucht, als Jugendlicher von seiner Mutter im Stich gelassen, sich verantwortlich fühlend für seine kleine Schwester Micha, für die er alles tun würde und tut, wenn es auch das komplett Falsche ist. Sein Schicksal berührt und selbst die schlimmsten Handlungen will man ihm verzeihen. Einerseits wirkt er schon sehr erwachsen, selbständig und kämpferisch, andererseits wieder völlig mit der Situation überfordert. Er weiß, dass er das Falsche tut und dennoch sieht er keinen Ausweg, lässt sich nicht helfen.
Anna Leemann, aus behütetem Hause mit fester Lebensplanung - erst Abitur, dann ein Jahr nach England, dann das Studium - trifft auf Abel und ihr Leben kommt völlig aus dem Tritt. Sie verliebt sich in diesen unnahbar erscheinenden Jungen, nicht auf die Warnungen ihrer Freunde, ihrer Eltern hörend. Sie erscheint sehr unreif, sehr blauäugig und verliert sich in eine Liebe, die zum Scheitern verurteilt ist.

Micha, die kleine Schwester Abels, klammert sich an das Märchen ihres Bruders, das ihr so den tristen Alltag lebenswert macht. Sie begreift über das Märchen - wie auch der Leser- die tatsächlichen Zusammenhänge. Sie ist noch ganz Kind, versinkt in der Märchenwelt und zumindest für sie gibt es auch ein Happy End.


Aufmachung des Buches
Das gebundene Buch hat einen wunderschön gestalteten Einband. Am Wasser stehend, die Arme weit ausgebreitet, dem See zugewandt, scheint die abgebildete Frau die Welt zu umfassen. An den sonst kahlen Ästen der Bäume erscheinen rote Früchte. Alles erstrahlt in einem unwirklichen, glitzernden Grün.


Fazit

Eine zweifellos bewegende Geschichte um die Liebe zweier Jugendlicher, die von Anfang an zum Scheitern bestimmt ist. Der Erzählstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen, auch die Idee des Märchenerzählers. Allerdings habe ich erhebliche Probleme mit der Botschaft dieses Buches. Nicht alles ist entschuldbar und aus der Vergangenheit erklärbar, nicht alles tolerierbar, weder das Dealen und sich Verkaufen, schon gar nicht eine Vergewaltigung oder Mord. 14-Jährigen würde ich das Buch keinesfalls empfehlen, da das Erzählte doch gut reflektiert sein will und die einfache Identifikation mit der Protagonistin Anna und ihrer naiven Sichtweise auf die Dinge nicht wirklich wünschenswert ist.


3_Sterne


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