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In Brüsel gerät die Welt aus den Fugen. Aus dem Nichts tauchen in einer Etagenwohnung Steine auf, alle mit exakt demselben Gewicht, und das ist noch dazu eine Primzahl. Zugleich wird Gourmetkoch Maurice trotz guten Essens immer leichter und droht, davonzuschweben.
Die Stadtväter wissen nicht weiter und bitten Mary von Rathen, ehemals Schräges Mädchen und jetzige Expertin für unerklärliche Phänomene, um Rat. In der Tat ist Mary die einzige, die wirklich sehen kann, was vor sich geht…

Eine weitere phantastische philosophische Episode aus dem Universum der Geheimnisvollen Städte.

 

 

Autor: Francois Schuiten, Benoit Peeters
Illustrationen: Francois Schuiten
Verlag: Schreiber & Leser
Erschienen: Februar 2010
ISBN: 978-3-937102-96-2
Seitenzahl: 112 Seiten
Altersgruppe: ab 14 Jahren (Empfehlung des Rezensenten)

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Die Grundidee der Handlung
Der Inhaltsangabe des Verlages habe ich nicht mehr allzu viel hinzuzufügen, will ich nicht wesentliches der Handlung verraten. Vielleicht noch ein weiteres wichtiges Phänomen, das unerwähnt blieb: Ein Hochhausapartment wird mit feinkörnigem, weißem Sand überschüttet und treibt die alleinerziehende Mutter zweier Kinder fast in den Wahnsinn, auch wenn ihre Sprösslinge damit begeistert Sandburgen von bombastischen Ausmaßen bauen…

Wir schreiben das Jahr 784 in Brüsel mit einem „s“, doch da dies eine von Schuiten & Peeters ersonnene Parallelwelt ist, kann weder die Jahreszahl noch die belgische Hauptstadt Brüssel mit herkömmlichen Maßstäben für die Handlung oder den optischen Rahmen assoziiert werden. Vielmehr erwartet den Leser eine Welt ähnlich der des ausklingenden 19. Jahrhunderts, als der technische Fortschritt in den Großstädten Einzug hielt, kombiniert mit modernen Elementen unserer heutigen Zeit, aber auch alte arabische Mythen, die an „1.001 Nacht“ erinnern, sind mit eingeflochten.
Insgesamt ist den Autoren eine ebenso spannende wie rätselaufgebende und mit leisem Humor angereicherte Geschichte geglückt, die den Leser bis zum Schluss mit Begeisterung bei der Stange hält. Leider empfand ich die Auflösung des zentralen Mysteriums wenig zufriedenstellend, da viele Fragen im Detail unbeantwortet blieben, ja sogar neue aufgeworfen wurden, ohne den Hinweis auf eine angedachte Fortsetzung zu liefern. So verbleibt nach der Lektüre bei mir ein schaler, enttäuschender Nachgeschmack, auch wenn hier ein unbestreitbar toller, unkonventioneller Ideencocktail eingebracht wurde, der mir inhaltlich wie optisch viel Vergnügen bereitete.


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Die Zeichnungen sind hier in ihrem Rohzustand belassen worden, also ohne Kolorierung, was für einen heutigen Comic – sofern es sich nicht um eine Graphic Novel oder einen japanischen Manga handelt – doch eher untypisch und gewagt ist. Der Atmosphäre allerdings sind diese oft düsteren, mit viel Schwarz gehaltenen Bilder sehr zuträglich. Da die Seiten nicht weiß, sondern hellgrau eingefärbt sind, müsste man hier - um ganz genau zu sein - von einer schwarz-grauen statt schwarz-weißen Optik sprechen. Wortwörtliche Highlighter sind einzig die mit den unerklärbaren Phänomenen in Verbindung stehenden Personen und Gegenstände, welche mit schneeweißer, lackähnlicher Farbe aus dem einheitlichen Grau-Schwarz heraus leuchten.

Schon auf den ersten Seiten wird man mit irritierenden Bildern konfrontiert. Da befinden sich zahllose Zeppeline in niedriger Höhe am Horizont, Fußgängerwege spannen sich als lange Holzstege über den Dächern der Stadt, dazwischen ragen einzelne Hochhaussilhouetten heraus. Noch verwirrter ist man, wenn es auf Seite 5 heißt: „Brüsel, 21. Juli 784“. Das Auftauchen eines Bugti-Kriegers mit Turban und gelocktem Rauschebart auf Seite 11, der ein erbeutetes Schmuckstück verkaufen will und die knuffigen, runden Autos auf Seite 14 machen einem schnell klar, dass man es hier mit einem unkonventionellen Szenario abseits gängiger Standards zu tun hat. Nostalgie wie vor über 100 Jahren, moderne Technik und orientalische Mystik verbinden sich in „Die Sandkorntheorie“ auf homogene Weise. Irgendwie musste ich beim Lesen ständig an Jules Vernes Romane denken, die ich in meiner Jugend verschlang. Wer weiß das schon genau, vielleicht stand J. Verne ja tatsächlich Pate bei der „Sandkorntheorie“?

In den Zeichnungen wird viel mit schraffierten Linien unterschiedlicher Länge und Dichte gearbeitet; sie schaffen Tiefe, Ausdruck in der Mimik oder gestalten Hintergründe und Gegenstände aus. Häufig sind auch Gegenstände und Personen partiell oder gänzlich mit Schwarz überschattet, wenn es die Situation erfordert. Insgesamt wirkt die Optik in dem Comic skizzenartig, die ebenso detailliert, scharf und ausdruckstark wie vage, andeutend und schemenhaft daherkommen kann. Bei den drei weiblichen Hauptpersonen Kristin Antipowa, Elsa Autrique und Mary von Rathen hatte ich aufgrund ähnlicher Frisuren Probleme sie auseinanderzuhalten, die männlichen Protagonisten dagegen boten in der Hinsicht keine Schwierigkeiten.

Sehr gut gefiel mir, wie die beängstigende Stimmung durch das Autorenduo immer wieder mit wahrhaftig luftigen, zum Schmunzeln einladenden Szenen aufgelockert wird. Da kann es schon mal vorkommen, dass der hagere, intellektuelle Brillenträger Constant, der in seiner Wohnung mit gleichschweren Steinen zugepflastert wird, den in die Lüfte abhebenden Koch Maurice wortwörtlich an die Leine nimmt, während sie zusammen einen Ausflug über die Dächer von Brüsel unternehmen und dabei die altjüngferliche Elsa mit gleich zwei bärtigen Herren im Bett liegen sehen… Die beiden Männer nehmen ihr zu tragendes Übel erstaunlich gelassen hin, sie helfen sich gegenseitig wo sie nur können und machen aus der gegebenen Situation immer das Beste ohne sich zu sorgen. Unter den Hauptpersonen bleibt Mary von Rathen dagegen relativ blass. Sie wurde von den Stadträten herbeigeholt, um den unheimlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen, dabei vermittelt sie den Eindruck, als ob sie genau wüsste was vor sich geht, andererseits unternimmt oder äußert sie nichts, was dies untermauern würde. Insgesamt empfand ich sie als ambivalente Figur, die es nicht schafft den Leser für sich einzunehmen.

Die Sprechblasen kommen ganz comictypisch in rechteckiger Form und mit einem gleichmäßigen Schriftbild in Großbuchstaben daher. Auf Geräusche oder Ausrufe, mit Großbuchstaben wie „BRRR“, „KRAK“ oder „AAAHH“ in den Zeichnungen kenntlich gemacht, trifft man nur sehr selten.


Aufmachung des Comics
Der Comic ist zwar in kartonierter Klappenbroschur verlegt, jedoch sind seine Seiten tatsächlich gebunden statt - wie bei dieser Aufmachung üblich - eingeklebt, was ihn ein wenig hochwertiger und langlebiger macht. In der Höhe entspricht er dem A4-Format, dafür ist er etwas breiter gehalten. Auf den Innenklappen vorne und hinten finden sich die Autorenporträts von Francois Schuiten und Benoit Peeters, jeweils mit einem kleinen Foto. Beide Autoren haben vielseitige berufliche Betätigungsfelder, ihr Blick richtet sich beileibe nicht nur auf Comic. Schuiten z.B. gestaltete Opernbühnenbilder oder Pavillons für mehrere Weltausstellungen, Peeters arbeitet für Film und Fernsehen und verfasst Bücher. Zusammen widmen sich die Autoren außerdem noch der Restauration eines Jugendstilbaus in Brüssel.

Der Ruine auf dem Coverbild begegnet man in der Handlung erst zum Schluss. Mit ihr hängen - ebenso wie mit dem weiß leuchtenden Schmuckstück, das Mary von Rathen in Händen hält - sämtliche unheimlichen Vorgänge in der „Sandkorntheorie“ zusammen. Auf der Rückseite ist im oberen Drittel die Inhaltsangabe in weißer Schrift abgedruckt, darunter reihen sich weiße Gesteinsbocken um den leuchtenden Schmuckgegenstand. Die Seiten des Innenteils haben einen seidenmatten Glanz und sind ausreichend dick, um nicht bei mehrmaligem Lesen zu knittern.


Fazit
"Die Sandkorntheorie" bietet einen ebenso eigentümlichen wie abenteuerlichen Mix aus nostalgisch-technisiertem Ambiente und orientalischer Mystik, als ob Jules Vernes Szenarien auf die aus "1001 Nacht" treffen würden. Die Handlung weiß durchaus zu fesseln, allerdings kann ich nicht leugnen, dass ich den Schluss sehr enttäuschend fand. Eine eventuelle Fortsetzung würde die unzureichende Auflösung erklären.
Die nichtkolorierte, skizzenhafte Optik kommt für einen gängigen Comic zu eigenwillig und unkonventionell daher, um sie uneingeschränkt empfehlen zu können. Deshalb sollte man vor dem Kauf unbedingt einen Blick auf die Zeichnungen werfen. Dies kann entweder beim Comichändler geschehen oder auf der Verlagshomepage, wo sich eine 2-seitige Leseprobe und ein Trailer befinden.

Meine Bewertung ist ein Mittelwert aus 3 Sternen für den Inhalt und 4 Sternen für die Zeichnungen.
 

3 5 Sterne


Hinweise
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