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Ein Mann sitzt in seiner Wohnung allein. Die Teppiche sind gerollt, die Fensterläden geschlossen, die Möbel mit weißen Tüchern bedeckt. "Von den Personen, die hier dereinst gelebt haben, steht fest: eine männlich, eine weiblich." Um dem Ich dieses Mannes, der Gantenbein heißen soll, auf die Spur zu kommen, entwirft der Erzähler Varianten dessen - und gleichzeitig seines eigenen - Lebens. "Mein Name sei Gantenbein!" beschließt er und erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich eines Tages eine Blindenbrille und ein schwarzes Stöckchen zulegt, um seine Umwelt glauben zu lassen, er sei blind. Gantenbein ist keine Gestalt der Wirklichkeit - so wenig wie Don Quichotte - sondern eine Rolle, die der Ich-Erzähler sich entwirft. Gantenbein als blinder Fremdenführer, Gantenbein als blinder Zeuge vor Gericht, vor allem aber als blinder Gatte, der mit Lila, indem sie ihn für blind hält, eine glückliche Ehe führt - bis er eines Tages aus seiner Rolle fällt.

 

  Autor: Max Frisch
Verlag: Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH (Original-Ausgabe erschienen bei Suhrkamp)
Erschienen: 2004
ISBN: 978-3937-7933-13
Seitenzahl: 314 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Der Ich-Erzähler wechselt in diesem Roman von Max Frisch von Seite zu Seite. Mal ist der Gantenbein, mal sein Konkurrent Enderlin, am Ende gar Svoboda, der erste Mann Lilas. So gesteht der Erzähler ganz zu Beginn des Buches "Ich probiere Geschichten an wie Kleider!". Und in der Tat, dieser Roman ist eine große Modenschau der verschiedenen Identitäten. Zuerst heißt es "Sein Name sei Gantenbein." Ein paar Seiten später steckt der Erzähler plötzlich in einem ganz anderen Kopf. Aber das ist Frisch nicht genug. Am Ende des Romans wird der Erzähler auch noch gespalten, nämlich in "ich" und einen "fremden Herrn" und so findet man Sätze wie "...Und als der fremde Herr endlich seine Hand wegnimmt, da ich sie brauche, um einen Whisky zu ergreifen..."

Frisch hat sich in der Form des Romans ganz von einer linearen zusammenhängenden Erzählung verabschiedet, vielmehr ist "Mein Name sei Gantenbein" eine Aneinanderreihung einzelner Geschichten und Situationen - oder viel besser - die Aneinanderreihung vieler möglicher Geschichten und Situationen. Eine Sammlung von "Entwürfen zu einem Ich".
Frisch lässt an einer Stelle des Romans den betrunkenen Erzähler den Satz sagen: "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält". Mit diesem Satz wird zugleich der Kerngedanke des Romans dargestellt. Was von dem, was wir täglich leben, sind wir, was ist nur unsere Erfindung? Daneben geht es um Liebe, Ehe, Ehebruch und Eifersucht.


Stil und Sprache
Die ersten Seiten des Buches sind verwirrend, ja zeitweise sogar unerfreulich. Dies liegt nicht daran, dass Max Frisch einen schlechten Schreibstil hätte, was ganz und gar nicht der Fall ist. Es liegt einfach daran, dass man als Leser verstehen muss, dass es keine zusammenhängende Erzählung gibt. Der Perspektivenwechsel sowie das Springen von einer Begebenheit zur nächsten, erfordert zunächst etwas Geduld. Hat man sich aber darauf eingelassen, dass Max Frisch nicht die Wirklichkeit vorgaukelt, sondern den Leser auf eine Reise durch alle möglichen Identitäten mitnimmt und hat man sich schließlich von seiner Verblüffung erholt, dann kann man sich ganz einlassen auf diesen Roman. Schließlich begreift man, dass es Frisch fern liegt, den Leser von der Wahrheit und Echtheit seiner Geschichten zu überzeugen, das lässt sich vor allem an dem Konjunktiv erkennen, zuweilen auch an der mehrmals benutzten Einleitung "Ich stelle mir vor:..." Im Fortlauf des Buches ist man dann nicht einmal mehr überrascht, dass Gantenbein beginnt, sich als Blinder auszugeben, was ihm auch vortrefflich gelingt. Amüsant sind vor allen Dingen seine Versuche, sein Verhalten ganz auf die eines Blinden zu reduzieren und er wird im Laufe des Buches ein wahrer Meister der Verstellung, so dass weder die zuständigen Ämter, noch seine eigene Frau Lila von dem Schwindel erfahren.

Frischs' Sprache ist klar und genau, sehr pointiert. Seine Beschreibungen kleinerer Begebenheiten, seine Beobachtungsgabe, insbesondere was die Beziehung zwischen Mann und Frau betrifft, sind großartig. Manche Wörter klingen etwas antiquiert, wobei es sich nicht sagen lässt, ob diese Wörter einfach nur aus dem Sprachgebrauch verdrängt wurden (der Roman wurde 1964 geschrieben) oder ob diese mehr dem schweizerischen Sprachgebrauch entstammen.


Figuren
Die Hauptfiguren bestehen aus dem "Ich", das eng verknüpft ist, mal mit Gantenbein später mal mit Enderlin. Die Figuren des Theo Gantenbein und des Felix Enderlin werden von Frisch minutiös entworfen, wie im übrigen auch die anderen Personen. Besonders gelungen sind die vielen Episoden, die Gantenbeins angebliche Blindheit betreffen. So muss er sich zunächst selbst daran gewöhnen. Missgeschicke, wie dass er seinen Blindenstock rasch aufhebt, den er eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen, bleiben von seinen Mitmenschen unbemerkt. Enderlin hingegen ist ganz als Gantenbeins Gegenspieler konzipiert, von dem Gantenbein vermutet, er (Enderlin) habe ein Verhältnis mit seiner Lila. Enderlin, soll einen Ruf nach Harvard erhalten haben, den er allerdings nie antritt. Als Mythenforscher forscht er über Hermes, er selbst bleibt bis zum Schluss des Romans wenig greifbar. Ziemlich am Ende des Romans führt Frisch noch den ersten Mann Lilas ein. Auch dieser Frantisek Svoboda tritt ebenfalls als Gegenspieler und möglicher Rivale auf.
Die weiblichen Hauptfiguren sind Lila und Camilla Huber. Camilla Huber ist die Dame, zu der Gantenbein zur Maniküre geht. Unterschwellig wird impliziert, dass sie nebenbei auch in einem anderen Gewerbe arbeitet. Zu dieser Person erhält Gantenbein eine freundschaftliche Beziehung, während der Maniküre erzählt er ihr die eine oder andere Anekdote.
Auch Lila bleibt von den verschiedenen Möglichkeiten einer Figurenkonzeption nicht verschont. Über weite Strecken ist sie Gantenbeins Frau, eine schöne und eigensinnige Schauspielerin. Dann wiederum stellt sich Gantenbein Lila als Comtessa vor und ist verwundert, plötzlich Dienstboten zu haben. Der Gedanke mit der Comtessa wird wieder verworfen und Lila ist plötzlich Mutter.

Lila und Gantenbein sollen stark autobiographisch eingefärbt sein und die Beziehung zwischen Max Frisch und der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann symbolisieren, die Mitte der sechziger Jahre in die Brüche ging.


Aufmachung des Buches
Das Buch entstammt dem ersten Teil der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung, in der insgesamt 100 Romane des 20. Jahrhunderts neu aufgelegt wurden. Der hier vorliegende Roman von Max Frisch ist Band 32. Alle Bände sind als gebundenes Buch erschienen, jeder Bucheinband in einer anderen Farbe, das vorliegende in orange. Auf dem Buchrücken stehen Name des Autors und Titel des Buches, und die durchlaufende Nummerierung des Bandes. Zudem findet sich dort ein Schwarz-Weiß-Bild des Autors. Auch die Vorderseite des Buches ist mit einem Schwarz-Weiß-Foto verziert und zwar jeweils mit einem Ausschnitt aus der Verfilmung des Buches. Die Verarbeitung ist hochwertig und auch die ausgewählten Romane lassen keinen Wunsch offen. Somit ist die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung ein Muss für Bücherfans, die im Übrigen als Sammlung sehr dekorativ ist.


Fazit
"Mein Name sei Gantenbein" gehört ganz sicher zu den größten Werken des Schweizer Autors. Ganz auf der Höhe seines Schaffens, hat Max Frisch einen Roman geschaffen, dessen mutige Komposition besonders hervorzuheben ist. Einen Roman nur auf Möglichkeiten aufzubauen, ist sowohl sprachlich wie inhaltlich eine große Herausforderung, die Frisch souverän meistert. Dieser Roman gehört mit Recht zu den besten Romanen des 20. Jahrhunderts. Wie bereits beschrieben, muss man Frisch auf den ersten Seiten schon mal eine zweite Chance geben, dennoch lohnt es sich "am Ball" zu bleiben, denn das Buch ist wirklich lesenswert. Seine Einsichten in die Beziehung zwischen Mann und Frau sind aufgrund der vorgefunden Weitsicht, manchmal auch klaren Nüchternheit, ein purer Genuss.


4 5 Sterne


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