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Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im Hauptbahnhof. Hier wohnen die Aufsteiger, Übermütter und ihre wohlerzogenen Kinder. Hier scheint alles in Ordnung - wenn man nicht vom Supermarkt ins Büro und vom Büro in den Kindergarten hetzt, so wie Leonie, wenn man nicht am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter verzweifelt. Judith findet Halt in der Anthroposophie. Hingebungsvoll pflegt sie den "Jahreszeitentisch" für die Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Im Nebenhaus wohnen die alten Posselts. Sie haben geschafft, wovon die Enkelgeneration nur träumt: ein Leben lang zusammenzubleiben. Da versetzt Marco die Nachbarschaft in Aufruhr.

Kürzere Tage ist eine genaue Bestandsaufnahme und eine melancholische Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der alles fragwürdig geworden ist.

 

  Autor: Anna Katharina Hahn
Verlag: Suhrkamp Verlag
Erschienen: 2009
ISBN: 978-3-518-42057-7
Seitenzahl: 223 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Judith, Leonie, Marco, Luise - all diese Menschen leben in Stuttgart, Tür an Tür. Sie haben unterschiedliche Leben, unterschiedliche Familien, unterschiedliche Träume. Manche eine Zukunft, andere - so wie Marco - wurden schon ohne eine Zunkunft geboren. In der Hauptsache geht es um die Mütter Judith und Leonie. Während die eine penibelst auf die Waldorferziehung ihrer Kinder achtet, eine wahre Übermutter, hält sich die berufstätige Leonie, selbst für eine Rabenmutter.

Anna Katharina Hahn schildert in ihrem Roman eine Gesellschaft, die mehr und mehr Risse erhält. Vordergründig scheint alles normal zu sein, doch hinter den Fassaden brodelt und bröckelt es. Bis Marco Amok läuft, auf der Suche nach einem besseren Leben.


Stil und Sprache

Zunächst bleibt dem Leser der zusammenhängende Handlungstrang verborgen. Es wird über Judith erzählt, dann zu Leonie gewechselt. Wenn man am Ende erkennen muss, das alles zusammenhängt, nichts einfach so erzählt wurde, sondern Sinn, Zweck und Konsequenzen hat, wenn man am Ende des Romans die Verknüpfung der Figuren wahrnimmt, ist man überrascht und fasziniert zugleich. Eine konstruierte Handlung zunächst wie Plauderei aussehen zu lassen, ist meisterhaft.

Anna Katharina Hahn ist ein wortgewaltiger Roman gelungen. Durch ihre bildhafte Art der Beschreibung wie z.B. der Bezeichnung "Hackstraßenmist", die Judiths fragwürdige Vergangenheit mit einem oberflächlichen Liebhaber und Alkoholexzessen beschreibt, gelingt der Autorin, den Leser von Anfang an in die Geschehnisse zu ziehen.
Der Roman ist vor allen Dingen eins: ein sprachlicher Hochgenuss. Ihre Worte sind durchschlagssicher, erreichen den Leser ungehindert und befehlen ihm, sich die nackte Realität anzuschauen. Diese Authenzität und Präzision ist überaus packend.
Darüberhinaus gelingt es der Autorin in nüchtern-lakonischem Erzählton eine bedrückende, schwermütige Stimmung zu erzeugen, die den Leser - nicht gerade zimperlich - auf die nahende Katastrophe vorbereitet. Diese Melancholie und Resignation, mit der Anna Katharina Hahn das Bürgertum Stuttgarts vor dem Auge des Lesers entstehen lässt, hat mich vor allen Dingen begeistert.


Figuren
Die Hauptfiguren sind die beiden Mütter Judith und Leonie, die gegenseitig argwöhnisch das Leben der anderen aus der Distanz beobachten. Peinlichst genau achten beide darauf, alles hinzukriegen. Dabei muss die eine nachts Tavor einschmeißen, um ihren Angstattacken Herr zu werden, und Leonie ist vor allen Dingen frustriert, weil ihr Mann so spät von der Arbeit kommt und sich nicht wie Judiths Mann um die Familie kümmert. Sie selbst versucht täglich den Spagat zwischen Karriere und Kochtopf und wäre doch am liebsten wie Judith.

Die Posselts, ein älteres Ehepaar, spiegeln dagegen die Generation der Eltern wieder. Beide sind alt, zufrieden mit dem was sie erreicht haben, wenn nicht die kleinen Zimperlein des Altseins wären.

Und dann gibt es da noch Marco. Der Junge ohne Chance, vom Stiefvater verprügelt, missverstanden und ausgestossen. Kein Mitglied der feinen Constantinstraße, sondern Teil des Abschaums gleich um die Ecke.

All diese Figuren sind klug angelegt. Anna Katharina Hahn lässt eine lebendige Ansammlung der unterschiedlichsten Charaktere entstehen. Dabei sind die Motive, Ängste und Gefühle ihrer Protagonisten bis zur kleinsten Nebenfigur immer gut nachvollziehbar.


Aufmachung des Buches
Diese gebundene Ausgabe, erschienen im Suhrkamp-Verlag, ist anspruchsvoll gestaltet. Der Einband zeigt einen cremeweißen Ausschnitt einer Stuckdecke, die im Laufe der Jahrzehnte Risse bekommen hat. Eine Decke, wie sie in der feinen Constantinstraße üblich ist, wo die Gesellschaft ebensolche feinen Risse bekommen hat. Solche feinen Anspielungen auf die Handlung eines Buches sieht man selten.

 


Fazit
Anna Katharina Hahns Mileustudie ist keinesfalls leichte Kost. Kein Urlaubsroman zum Verschlingen und auch nicht geeignet, um sich in der U-Bahn die Zeit zu vertreiben. Für dieses Buch braucht man Muse und Zeit. Wer die opfert, wird mit einer Lektüre belohnt, die neben ihrer anspruchsvollen Sprache vor allem mit glasklaren Einblicken in die städtische Gesellschaft begeistert und diese mit jeder Seite mehr und mehr enttabuisiert. Die verstöhrende Traurigkeit, die dieses Gesellschafts-Portrait hinterlässt, lässt einen lange nicht los.


5 Sterne


Hinweise
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