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„Der Wächter eines jeden Menschen, Jean Louise, ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.“

Das Erstlingswerk von Harper Lee, Autorin des preisgekrönten Weltbestsellers Wer die Nachtigall stört, in den 1950er-Jahren geschrieben und erst jetzt entdeckt – die bewegende Geschichte einer Tochter, die sich von ihrem geliebten Vater emanzipieren muss, um zu sich selbst zu finden.

 

Gehe hin stelle einen Waechter 

Originaltitel: Go Set a Watchman
Autor: Harper Lee
Übersetzer: Klaus Timmermann und Ulrike Wasel
Verlag: DVA
Erschienen: 07/2015
ISBN: 978-3421047199
Seitenzahl: 320 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Die amerikanische Autorin Harper Lee galt jahrzehntelang als literarisches „One-Hit-Wonder“, schrieb sie doch nur ein einziges Buch, das aber Weltruhm erlangte: Wer die Nachtigall stört. Nun erschien fast zeitgleich auf Deutsch und auf Englisch ein weiterer Roman von Harper Lee, der als – vom Verlag damals abgelehnte – Urversion von Wer die Nachtigall stört angesehen wird. Ob er es tatsächlich ist, wird man wohl nie herausfinden, denn Harper Lee ist seit den 60er Jahren nicht mehr öffentlich aufgetreten und lebt sehr zurückgezogen.

Gehe hin, stelle einen Wächter spielt zwanzig Jahre nach Wer die Nachtigall stört und das Mädchen Scout ist erwachsen geworden. Sie kehrt für einen Urlaub aus New York in ihre Heimatstadt zurück und ist zunächst fasziniert von der immer noch traditionell geprägten Gesellschaft, trifft ihren Jugendfreund Hank wieder, in den sie „fast verliebt“ ist und der sie heiraten will, und natürlich kommt sie heim zu ihrem mittlerweile über 70 Jahre alten Vater, dem Rechtsanwalt Atticus Finch. Ähnlich wie die sechsjährige Scout damals beobachtet sie heimlich eine Ungeheuerlichkeit, die sie an ihren Idealen und Werten zweifeln lassen, die Liebe zu ihrem Vater in Frage stellt und überhaupt ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt. So handelt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ auch und besonders davon, endgültig erwachsen zu werden. Der unantastbare Atticus Finch wird vom Thron der Unfehlbarkeit gestoßen und zum normalen, vorurteilsbehafteten Menschen degradiert. So sehr der eigentlich zweite Roman „den“ amerikanischen weißen Bürger glorifiziert, so schnörkellos wird hier ein Bild gezeichnet, das vermutlich eher den tatsächlichen Verhältnissen in den USA der 50er Jahre entspricht.


Stil und Sprache
Harper Lee zeigt zu Beginn des Romans dieselbe Leichtigkeit in der Schreibweise, wie man sie aus der Erzählung der sechsjährigen Scout kennt. Locker und leichtfüßig, mit vielen spitzfindigen Dialogen und an jeder Ecke mit einer Prise Humor versehen, so gestalten sich die Ankunft Scouts und ihre ersten Tage in der Heimat. Die Protagonisten sind die des zweiten Romans, Atticus arbeitet immer noch als Anwalt, die schwarze Haushälterin Calpurnia genießt ihren Ruhestand und auch Tante Alexandra hat ihre Auftritte. Und doch ist etwas anders: Die Atmosphäre in der Stadt hat sich verändert, die Schwarzen sind nicht mehr ausschließlich Bedienstete der weißen Minderheit, sondern führen ihre eigenen Gemeinden und Gruppierungen an. Und diese Minderheit versucht verzweifelt, das Aufstreben der farbigen Mehrheit aufzuhalten. All das erzählt wiederum Scout, allerdings nicht aus der Ich-Perspektive wie zuvor, sondern in der dritten Person. Nichtsdestotrotz ist man immer nah bei ihr und als die Stimmung nach etwa der Hälfte des Buches endgültig kippt, verschwindet auch die Leichtigkeit aus dem Tonfall der Erzählerin. Von da an wird es teilweise verwirrend, niemand spricht klare Worte, stattdessen werden Vergleiche und Bilder bemüht, die – besonders aus heutiger Sicht - nicht immer verständlich sind. Das Ende hingegen ist dann wieder leicht süßlich und mit viel Schmalz versehen, eine Haltung, die so gar nicht zu der Scout passen will, die wir kennen.

Insgesamt lässt mich dieses Buch zwiespältig zurück, es ist sicher ein interessantes Zeitdokument, aber literarisch nicht rund und kein ganz großer Roman.


Figuren
Scout, die nun meistens mit ihrem richtigen Namen Jean Louise angesprochen wird, ist immer noch das rebellische Mädchen, das wir aus Wer die Nachtigall stört kennen. Unangepasst und selbständig treibt sie ihre Tante Alexandra immer wieder zur Weißglut, etwa wenn sie sich weigert, mit Hut in die Kirche zu gehen oder überhaupt in Hosen herumläuft. Scout vergöttert ihren Vater und macht eine harte Zeit durch, als dieser sich als nicht so gottähnlich erweist. Atticus selbst ist alt geworden, leidet an Arthritis, lässt sich davon aber nicht abhalten, weiter seinem Beruf als Anwalt nachzugehen. Er macht einen im wahrsten Sinn gebrochenen Eindruck und erinnert kaum noch an den aufrechten Mann, der zwanzig Jahre zuvor für einen schwarzen Landarbeiter Gerechtigkeit suchte.

Hank, Scouts Beinahe-Verlobter, ist in all der Verwirrung so ziemlich der einzige, der klar denken kann und es auch tut. Warum Scout ihn nicht schon längst geheiratet hat, kann er allerdings nicht verstehen. Es gibt außer ihm noch ein paar kleinere Nebencharaktere, von denen man ebenso wie von den Protagonisten sofort ein Bild vor dem inneren Auge hat.


Aufmachung des Buches
Das gebundene Buch erinnert in der Aufmachung an das amerikanische Original und zeigt auf dem Cover einen herannahenden Zug sowie eine dunkle Baum-Silhouette. Innen ist die Handlung in sieben Teile und insgesamt 19 Kapitel eingeteilt.


Fazit
Gehe hin, stelle einen Wächter lässt mich etwas ratlos zurück. Es reicht bei weitem nicht an Harper Lees großen Erfolg heran, zeigt aber dennoch ein wichtiges Stück amerikanischer Wirklichkeit der 50er Jahre.


3 5 Sterne


Hinweise
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