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„Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“ - Aus dem Tagebuch der Anne Frank

Längst ist das lebenslustige jüdische Mädchen, das sich zwei Jahre lang in der Prinsengracht zu Amsterdam vor den Nazis verstecken konnte und dort Tagebuch führte, zu einer Ikone erstarrt und geistert als Lernstoff durch die Klassenzimmer Deutschlands. Waldtraut Lewin wagt es, das Denkmal von seinem Sockel und Anne in unsere Welt zu holen, um sie besser kennenzulernen. Bei ihrer fiktiven Begegnung lässt sie Anne staunen über das, was sich in den siebzig Jahren seit ihrem Tod verändert hat. Und erzählt ihr vom Staat Israel oder vom neuen Deutschland, in dem Juden leben dürfen und Menschen gegen Rechtsradikalismus auf die Straße gehen. Zusammen wagen sie den Blick von heute auf das Gestern und das Morgen.

 

Wenn du jetzt bei mir waerst 

Autor: Waltraud Lewin
Verlag: cbt
Erschienen: 9. Februar 2015
ISBN: 978-3-570171080
Seitenzahl: 224 Seiten

Hier geht‘s zur Leseprobe



Die Grundidee der Handlung
Anlässlich des 70. Todestages der durch ihr Tagebuch weltweit bekannten Anne Frank hat sich die deutsche Autorin Waldtraud Lewin an ein äußerst reizvolles Gedankenexperiment gewagt. In ihrem sehr einfühlsam und mitreißend erzählten Roman mit dem sehr passend gewählten Untertitel „Eine Annäherung an Anne Frank“ lässt Lewin die junge Anne nach über 70 Jahren in der heutigen Zeit lebendig werden, lässt uns aus ihrer Sicht die heutige Welt betrachten und nimmt uns mit auf eine ereignis- und lehrreiche Reise bis nach Israel. Hierbei vermittelt sie auch jüngeren Lesern sehr geschickt viel Wissenswertes über das Judentum und die jüdische Geschichte, greift aber natürlich auch das tragische Schicksal Anne Franks und Details aus ihrem veröffentlichten Tagebuch auf. Zum besseren Verständnis der Geschichte empfiehlt es sich daher für alle Leser, die die historische Persönlichkeit Anne Franks noch nicht so gut kennen, sich schon vorab ein wenig über sie zu informieren.

Eine gelungene Erzählung, die zum Nachdenken anregt und interessierte Leser zur weiteren Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte und dem Leben Anne Franks einlädt.


Stil und Sprache
Die ergreifende Geschichte wird ausnahmslos in der ersten Person der Gegenwartsform aus Sicht der sympathischen Ich-Erzählerin, einer älteren jüdischen Schriftstellerin, erzählt. Kenntnisreich greift die Autorin viele Details aus Anne Franks Leben, die sie in ihrem Tagebuch der Nachwelt hinterlassen hat, auf und lässt diese mit viel Feingefühl in die Figurenzeichnung ihrer fiktiven Protagonistin einfließen. So entwirft sie vor den Augen des Lesers das äußerst lebendige und authentische Bild einer trotz ihres jungen Alters bemerkenswerten Persönlichkeit. Der Leser begegnet einer jungen, sehr glaubwürdig zum Leben erweckten und überaus sympathischen Anne Frank, und begibt sich gemeinsam mit ihr auf eine spannende Zeitreise durch unsere heutige Welt. Sehr fesselnd ist es mitzuerleben, wie sie sich neugierig und offen der Gegenwart stellt, die Vergangenheit analysiert, vieles hinterfragt und sich ihre Gedanken macht. Der Leser ist sehr rasch von diesem interessanten Mädchen, das die bewegten Zeiten als fiktive Hauptfigur in ihrem Tagebuch überlebt hat, ihrer offenen und liebenswerten Art fasziniert und lässt sich gerne in die mitreißende und sehr lehrreiche Geschichte hineinziehen. Lewin versteht es, uns Annes Gedankenwelt näher zu bringen, so dass man ihre Gefühle und ihr Verhalten in vielen Situationen gut nachvollziehen und nachempfinden kann.

Durch anschauliche Erklärungen und lebendige Geschichten der Ich-Erzählerin ist es der Autorin hervorragend gelungen, viele sorgsam recherchierte Details glaubwürdig in die Handlung einzubinden. Auch in den interessanten Gesprächen mit Anne vermittelt Lewin den Lesern neben historischem Hintergrundwissen Informationen zum aktuellen Zeitgeschehen. Viele der angesprochenen Themen dürften auch bei jugendlichen Lesern Interesse wecken und sie zum Nachdenken anregen. Bisweilen droht allerdings die Handlung zu sehr hinter den vielen Erläuterungen zurückzutreten und eher nebensächlich zu werden. Der Ausgang des unterhaltsamen Romans kommt zwar etwas überraschend, ist aber dennoch glaubwürdig und nachvollziehbar gestaltet. Lewins Erzählstil liest sich flüssig und angenehm und verleiht der Geschichte durch amüsante und humorvolle Episoden eine gewisse Leichtigkeit.


Figuren
Mit der lebhaften, lebenslustigen 15-jährigen Anne hat die Autorin eine sehr charismatische Hauptfigur ins Leben gerufen, die einem auf Anhieb sympathisch ist. Sehr fesselnd, amüsant und manchmal auch sehr ergreifend ist ihre Sicht auf die aktuellen Geschehnisse in der Welt und die vielen Neuerungen der Gegenwart. Kein Wunder, denn ihr fehlen ja die Erfahrungen und das Wissen um die politischen und technischen Entwicklungen in den zurückliegenden 70 Jahre, die sie quasi verschlafen hat. Anne ist eine sehr selbstbewusste, willensstarke Persönlichkeit, die nach ihrem langen unfreiwilligen Eingesperrtsein schon bald eigene Wege gehen und ein freies, unbeschwertes Leben genießen will. Sehr nachvollziehbar und realistisch hat die Autorin beschrieben, wie Anne sich in den Alltag einlebt, eine Affäre mit dem jungen äthiopischen Studenten Haile beginnt und immer selbstbewusster und selbständiger wird. Sie will nun all die aufregenden Dinge erleben, die sie in Wirklichkeit durch ihren frühen Tod nie kennenlernen konnte.

Etwas in den Hintergrund tritt die eigentliche Ich-Erzählerin, die Anne im Museum in der Prinsengracht an deren Geburtstag plötzlich begegnet und sie ganz spontan auf einen abenteuerlichen Ausflug in die Gegenwart mitnimmt. Corelli nennt sie sich, da sie ihren wahren Namen nicht verraten möchte. Sie baut in der Geschichte eine freundschaftliche, warmherzige und mütterlich-behütende Beziehung zu der jungen Anne auf. Sehr einfühlsam und geduldig versucht sie, Annes Neugier zu befriedigen, ihre Wissenslücken in Bezug auf viele historische Fakten zu schließen und ihr die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in unserer Welt zu erklären. So hat sie sich auch vielen schwierigen, teilweise unangenehmen Fragen zum Judentum, Antisemitismus aber auch zum Staat Israel und dem Palästinenserkonflikt zu stellen. Sie gibt sich große Mühe, ihr und somit uns Lesern alles anschaulich zu erklären. Hierbei versucht sie, ihr belastende Dinge schonend beizubringen oder ganz auszublenden wie beispielsweise Annes Schicksal im KZ.

Die wenigen Nebenfiguren, vor allem Annes etwas undurchsichtiger Freund Haile, bleiben leider recht blass und sind weniger überzeugend ausgearbeitet, so dass man ihr Handeln nicht gut nachvollziehen kann.


Aufmachung des Buches
„Wenn du jetzt bei mir wärst“ ist als gebundenes Buch mit einem weißen Schutzumschlag aus mattem, weichen Papier erschienen. Das sehr schlichte Cover zeigt – passend zum Ausgangsort des Romans – eine Schwarz-Weiß-Skizze von einem Straßenzug in Amsterdam. Unten auf der rechten Seite erkennt man ein junges Mädchen auf einem Mountain-Bike. Der in roten Druckbuchstaben hervorgehobene Haupttitel, aber auch das in Fettbuchstaben hervorgehobene ANNE FRANK aus dem Untertitel springen dem Betrachter sogleich ins Auge und machen neugierig auf die Geschichte.

Der Roman besteht aus drei unbetitelten Teilen, die nicht Kapitel untergliedert sind, sondern lediglich Absätze aufweisen. Ein Nachwort der Autorin mit weiteren Erläuterungen sucht man leider vergeblich.


Fazit
Der einfühlsam und mitreißend erzählte Jugendroman ist ein interessantes, recht gut umgesetztes Gedankenexperiment, das die junge Anne Frank nach über 70 Jahren in der heutigen Zeit lebendig werden lässt. Ein empfehlenswerter, lehrreicher Roman für junge Leser ab 12 Jahren, die sich näher mit der historischen Person Anne Franks und dem Judentum beschäftigen möchten.


4 Sterne


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