Über ein halbes Jahrhundert hinweg fotografierte Raymond Depardon immer wieder in Berlin. Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls gewähren nun 300 Fotografien Einblick in seine ganz persönliche Sichtweise auf die Geschichte dieser Stadt zwischen 1961 und heute.
Originaltitel: Berlin. Fragments d’une histoire allemande |
Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Raymond Depardon nutzt zunächst das Vorwort, um den Lesern von seiner Herkunft, den wenigen Erinnerungen an die Nachkriegszeit und seiner Kindheit zu erzählen. Danach beginnt der Bildband in einem ersten Abschnitt mit Fotografien, die ganzseitig auf schwarzem Hintergrund abgedruckt für sich stehen, unkommentiert und zeitlich nicht näher eingeordnet. Ebenso abgedruckt werden die Negativränder, was einerseits sehr authentisch wirkt und andererseits – Anhänger und Nutzer filmbasierter Fotografie wird dies freuen – Rückschlüsse auf die verwendeten Filmmaterialien zulassen. Aus den Bildinhalten lässt sich jedoch ableiten, dass diese Aufnahmen vermutlich überwiegend nach dem Mauerfall entstanden sind. Sie haben beispielsweise verschiedene Mahnmale der Nazi-Zeit, Teile der Berliner Mauer und dort Verstorbener zum Inhalt, zeigen aber auch Straßenszenen Berlins, die mit der Mauer nicht (direkt) zu tun haben.
Nach dieser Einführung folgen neun Kapitel, die Depardons Fotografien einzelnen Jahren von 1962 bis 2013 – also dem Zeitraum kurz nach Maueraufbau (August 1961), über die Wiedervereinigung, bis hin zur Gegenwart Berlins – zuordnen. Die jeweiligen Kapitel werden durch eine rote Seite mit weißem Aufdruck der Jahreszahl, sowie einer Beschreibung zu wichtigen Ereignissen diesen Jahres und Inhalten der folgenden Fotos eröffnet, bevor die Bilder – erneut in Schwarzweiß auf schwarzem Hintergrund, nun zum Teil ohne Negativränder, im Hoch- und Querformat – folgen. Die einzelnen Aufnahmen sind, wie zuvor im ersten Abschnitt, im Allgemeinen unkommentiert, wirken aber allein durch ihre Inhalte und erzählen kurze, prägnante Geschichten. In wenigen besonderen Momenten wiederum schickt Raymond Depardon dann doch Erinnerungen und Erklärungen voraus, wie beispielsweise zum Zusammentreffen von Robert Kennedy und Willy Brandt 1962, bevor die dazu passenden Fotografien folgen. In anderen Aufnahmen trifft der Leser auf die Queen Elisabeth oder Konrad Adenauer, kurz vor seinem Tod.
Vereinzelt werden bis zu neun Fotografien pro Seite präsentiert, doch im Wesentlichen verbleibt der Autor dabei, nur eine Aufnahme pro Seite zu zeigen, sodass sie ihren Ausdruck, ihre Wirkung voll entfalten kann. Zudem erscheinen sie durch den schwarzen Hintergrund noch kraftvoller, leuchtender und kontrastreicher.
Die Abbildungen verstehen es nicht nur, die vorherrschende, in den Anfangsjahren angespannte Atmosphäre Berlins einzufangen, sondern auch – alleine für sich sprechend oder in Bildserien, wie die der spielenden Kinder 1962 – die Katastrophe der deutsch-deutschen Teilung, die linksextremen Bewegungen der späten 70er Jahre oder den Mauerfall mit ihrer jeweiligen Wirkung auf die Bewohner Berlins festzuhalten. In Worten unbeschreibliche Szenen, die in der Fotografie eine einzigartige Ausdrucksform erhalten haben und das Leben in Berlin, sowie seiner Bewohner, Politiker und Besucher, aber auch ihrer Gefühle nicht hätten passender darstellen können. Depardons Fotoarbeiten sind ergreifend, faszinierend, beeindruckend und nachdenklich stimmend, während sie eine starke, eine eindringliche Nähe zu den Porträtierten und den sich abspielenden Szenen offenbaren, zu großen und kleinen Figuren des Zeitgeschehens.
Als Zeuge großer Veränderungen hat Raymond Depardon den Wandel der Geschichte und des Berliner Stadtbildes über 5 Jahrzehnte begleitet und auf Zelluloid festgehalten. Besonders bewegende Bilder sind ihm, der sich ab dem 10. November 1989 in Berlin aufhielt, vom Mauerfall, von den Flüchtlingsströmen der Ostdeutschen nach Westberlin, vom Freudentaumel der Begrüßung und der Vereinigung lange Getrennter gelungen, hat er auch diesen Prozess doch fast von Beginn an begleitet.
Nur in zwei Fällen verlässt Depardons Dokumentation die Berliner Umgebung, um einmalige, andere Aufnahmen vorzustellen, die die deutsche Geschichte nachhaltig prägten: den Tod und die Beerdigung Konrad Adenauers in Köln und den Terror bei den Olympischen Spielen 1972 in München.
Aufmachung des Buches
Berlin präsentiert sich als gewichtiger Bildband im A4-Querformat mit fester Bindung und schwarzem Seitenschnitt. Dieses Format lässt den Fotografien im Inneren des Buches viel Raum zur Entfaltung, ist jedoch in der Handlichkeit eher suboptimal und verlangt eine feste Unterlage. Der Schutzumschlag ist – bis auf das monochrome Coverfoto eines auf der Berliner Mauer sitzenden und schreienden Mannes – in kräftigem Rot gehalten. Bei einem Blick unter diesen Umschlag entpuppen sich die Buchdeckel in leinenüberzogenem Anthrazit, mit ebenso roten Vorsatzpapieren. Insgesamt eine sehr wertige und edle Aufmachung, auch die Verarbeitungs- und Druckqualität des Bildbandes überzeugen.
Abgerundet wird der Bildband mit einer groben Karte des deutschdeutsch-geteilten Berlins, einer Danksagung sowie einiger weiterer Informationen.
Fazit
Raymond Depardon porträtiert mit seinen Schwarzweiß-Fotografien über 50 Jahre Geschichte der geteilten und wiedervereinigten Großstadt Berlin. Ein beeindruckender Bildband, ein einmaliges Zeitdokument deutscher Geschichte, eindringlich und hautnah.
Hinweise
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