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„Alfie nahm einen frühen Zug ins Krankenhaus, um kurz nach zehn vom Bahnhof King`s Cross. Es war Montag, und normalerweise wäre er in der Schule gewesen, aber er hatte andere Pläne für diesen Montag, den Tag, an dem er seinem Vater das Leben retten und ihn aus dem Krankenhaus entführen wollte …“ 

 

So fern wie nah 

Originaltitel: Stay where you are and then leave
Autor: John Boyne
Übersetzer: Brigitte Jakobeit, Martina Tichy
Verlag: FISCHER KJB
Erschienen: 24. März 2014
ISBN: 978-3-596856503
Seitenzahl: 256 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
London, 1914: Seinen fünften Geburtstag wird Alfie Summerfield sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen, denn an diesem Tag bricht der Erste Weltkrieg aus und nichts ist mehr wie zuvor. Obwohl sein Vater Georgie der Familie verspricht, nicht in den Krieg zu ziehen, meldet er sich schon am folgenden Tag freiwillig zum Militärdienst. Harte Zeiten kommen auf Alfie und seine Mutter Margie zu, die zum Überleben mehrere Jobs annehmen muss. Um seine Mutter zu unterstützen, geht Alfie heimlich als Schuhputzer arbeiten. Als plötzlich die Feldpostbriefe seines Vaters von der Mutter versteckt werden und schließlich ganz ausbleiben, ist er der festen Überzeugung, dass seinem Vater etwas Schlimmes passiert ist – auch wenn seine Mutter ihm weismachen möchte, dass dieser auf einer streng geheimen Mission ist. Durch Zufall erfährt Alfie, dass sein Vater in einer Klinik für kriegsversehrte Soldaten untergebracht sein soll und beschließt, alleine der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Wie bereits bei „Der Junge im gestreiften Pyjama“ hat sich John Boyne auch in seinem neuen Jugendroman eines schwierigen historischen Themas angenommen. In seiner berührenden Geschichte um den liebenswerten kleinen Alfie ist es ihm hervorragend gelungen, die vielfältigen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges aus der Sicht eines Kindes glaubhaft und einfühlsam zu schildern.


Stil und Sprache
Sehr gekonnt wird diese ergreifende Geschichte aus der kindlich-naiver Perspektive der 9-jährigen Hauptfigur Alfie geschildert. Seine offene, ehrliche und eindringliche Art, die Geschehnisse zu erzählen, fesselt und berührt den Leser schon nach den ersten Seiten.

Boyne versteht es hervorragend, die zwiespältige Stimmung der Bevölkerung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs einzufangen, die von großer Angst und echtem Entsetzen bis hin zu ausgesprochener Begeisterung für den Krieg reichte. Am Beispiel von Alfies Vater veranschaulicht Boyne, mit welcher grenzenlosen Naivität und Sorglosigkeit sich die Männer damals freiwillig zum Militärdienst gemeldet haben, um der ehrenvollen Pflicht nachzukommen, ihre Heimat gegen das Deutsche Kaiserreich zu verteidigen. Sehr eindringlich und authentisch zeigt Boyne die vielfältigen Veränderungen auf, die der Erste Weltkrieg für die Zivilbevölkerung und die daheim gebliebenen Familien mit sich bringt und die das Alltagsleben in Alfies engstem Umfeld in der beschaulichen kleinen Damley Road in London, bei seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn zunehmend beeinträchtigen. Wie ein roter Faden zieht sich der Ausspruch „bis Weihnachten ist das Ganze vorbei" durch das Buch, zu Beginn des Kriegs voller Blauäugigkeit geäußert, wird er im Laufe der immer länger anhaltenden Kriegshandlungen zum letzten Strohhalm, an den sich alle verzweifelt klammern. Ebenfalls die tragischen Schicksale der Kriegsheimkehrer spart Boyne nicht aus. Sehr deutlich und ohne etwas zu beschönigen führt er dem Leser die Leiden der vom Krieg gezeichneten Soldaten vor Augen, die nicht nur körperlich versehrt sind, sondern wie Alfies Vater auch schwerwiegende, psychische Beeinträchtigungen erlitten haben.

Geschickt vermittelt der Autor den jugendlichen Lesern ebenfalls die verheerenden Auswirkungen und die Schrecken dieses Kriegs, ohne auf die Brutalität bei den Kämpfen an der Front und dem Grauen in den Schützengräben genauer einzugehen. Vieles wird in Georgies letzten Feldpostbriefen lediglich angedeutet und geht dem Leser dennoch sehr nahe. Wer die genauen Hintergründe für seine Traumatisierung erfahren möchte, kann die tragischen Geschehnisse in Boynes Roman „Das späte Geständnis des Tristan Sadler“ nachlesen, der allerdings für eine ältere Zielgruppe geschrieben ist. Die unterschiedlichen Erzählstränge seiner beiden Bücher hat er äußerst überzeugend zu einer faszinierenden, gemeinsamen Handlung verwoben, in der wir neben Alfies Vater auch weiteren Figuren aus diesem Roman, wie beispielsweise Marian Bancroft, wiederbegegnen.

Boynes eindringlicher Schreibstil liest sich sehr angenehm und flüssig. Der Autor bedient sich einer der jüngeren Zielgruppe angepassten, eher schlichten Sprache, die aber dennoch nicht anspruchslos ist und mit vielen wundervollen Formulierungen überzeugen kann.


Figuren
Die einfühlsam erzählte Geschichte lebt vor allem von ihrer äußerst gelungen ausgearbeiteten Hauptfigur Alfie, den man mit seiner liebenswerten Art einfach ins Herz schließen muss. Während wir Alfie am Anfang noch kurz als 5-jähriges Kind mit seinen Eltern kennenlernen, erleben wir ihn später als bewundernswert tapferen, 9-jährigen Jungen, der sich rührend bemüht, die Rolle des in den Krieg gezogenen Vater Georgie zu übernehmen und den „Mann im Haus“ zu mimen. Mit seinem Job als Schuhputzjunge an der King`s Cross Station versucht er, seiner durch mehrere Nebenjobs völlig überarbeiteten Mutter finanziell unter die Arme zu greifen und schmuggelt das heimlich verdiente Geld in ihre Geldbörse. Sehr realistisch und einfühlsam sind Alfies kindliche Gedankenwelt und sein schlichtes Weltbild gezeichnet, das durch den Kriegsausbruch nachhaltig erschüttert wird. Bisweilen ist man beim Lesen über Alfies Einschätzungen sehr erstaunt, erscheinen sie fast schon zu reif und differenziert für sein Alter. Doch andererseits ist zu bedenken, dass viele Kinder in derartigen Extremsituationen gezwungen sind, sehr erwachsen und überlegt zu handeln, und daher auch Alfie mit seiner Tiefgründigkeit keineswegs unrealistisch gezeichnet ist.

Überzeugend stellt Boyne dar, wie der weitgehend auf sich selbst gestellte Junge von der Fülle an Eindrücken und Informationen, die er tagtäglich über den Kriegsalltag, das Schicksal der Soldaten und den Verbleib seines geliebten Vaters erfährt, verwirrt und aufgewühlt wird. Viele Dinge gilt es zu bewältigen, die er als Kind bisweilen noch gar nicht begreifen und in ihren Dimensionen richtig einordnen kann. Sehr leicht kann man sich in sein Seelenleben und seine Beweggründe hineinversetzen. So erleben wir Alfie, wie er einerseits sehr naiv und unbedarft, andererseits unglaublich mutig, voller Zuversicht und Tatendrang loszieht, um seinen kranken Vater zu retten und schließlich auf seiner Mission, seine kleine Familie endlich wieder zu vereinen, regelrecht über sich hinauswächst. Anschaulich und nachvollziehbar schildert der Autor Alfies anfänglichen Schock und seine tiefe Verstörung, als er völlig unvorbereitet seinem Vater in der Klinik begegnet.

Auch wenn viele Nebenfiguren nur am Rande auftauchen, gelingt es Boyne hervorragend, auch diese Charaktere interessant zu gestalten und uns ihre Schicksale sehr anschaulich vor Augen zu führen, wie beispielsweise der Kriegsverweigerer Joe Patience und der vermeintliche Spion Mr. Janácek aus Prag und seine Tochter Kalena. Sehr überzeugend hat er Alfies Mutter und Großmutter portraitiert, die ihn vor der schockierenden Wahrheit über seinen traumatisierten Vater schützen wollen und beide auf ihre ganz individuelle Weise versuchen, mit der Kriegssituation und dem tragischen Schicksal von Georgie umzugehen.


Aufmachung des Buches
Es handelt sich um ein gebundenes Buch mit einem Schutzumschlag aus mattem, weichem Papier. Die Gestaltung des Covers ist recht schlicht, aber durchaus passend zur allgemeinen Thematik des Romans. Die abgebildeten Motive mit dem Doppeldeckerflugzeug, dem düster wirkenden, khakifarben getönten Himmel und dem blutroten Mohnfeld im Vordergrund wecken Assoziationen zum 1. Weltkrieg. Der in weißen, kindlich geschriebenen Druckbuchstaben über das Covermotiv gelegte Buchtitel „So fern wie nah“, klingt etwas sperrig und seltsam. Während der Originaltitel sehr gelungen ein wiederkehrendes, zentrales Motto des Romans aufgreift, erschließt sich dem Leser die eigentliche Bedeutung des deutschen Titels erst allmählich.


Fazit
Ein eindringlich geschriebener, sehr bewegender Jugendroman über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen für die Menschen, der nachdenklich stimmt und den man nicht so schnell vergisst.

Ein sehr empfehlenswertes Jugendbuch, das auch erwachsene Leser begeistern wird!


5 Sterne


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