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August 1914. Der große Krieg, den alle kommen spürten, hat nun wirklich begonnen. Das junge Paar Fritz und Mila  wird gemeinsam mit so vielen anderen in den Taumel aus Kriegsbegeisterung und Feindseligkeit hineingerissen. Doch auch zwischen den beiden scheinen sich unkontrollierbare Empfindungen zu erheben: Fritz erhofft sich von dem Krieg eine Art Reinigung von verbotenen Gefühlen, die er noch nicht einmal Mila anvertrauen kann. Und Mila bekommt heftige Anfeindungen zu spüren, weil ihr Vater Franzose war. Als ein als Franzosenhasser bekannter Lehrer stirbt, eskaliert plötzlich alles …

 

Der Krieg und das Maedchen 

Autor: Jürgen Seidel
Verlag: cbj
Erschienen: 24. Februar 2014
ISBN: 978-3-570-15763-3
Seitenzahl: 474 Seiten

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Grundidee der Handlung
Mila und Fritz sind ein junges Paar, stehen noch ganz am Anfang einer Beziehung, doch schnell legen sich erste Schatten über die beiden. Fritz muss sich zunehmend eingestehen, dass er Gefühle für einen Klassenkameraden entwickelt, die ihn verwirren und verängstigen.  Mila, die dem Tod eines kriegsbegeisterten Lehrers beiwohnt, erlebt zunehmend Anfeindungen aufgrund ihres französischen Nachnamens, die immer größere Kreise ziehen, auf ihre Mutter und Freunde übergreifen und sich zuziehen wie eine Schlinge, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Während die deutsche Nation dem erhofften Blitzkrieg gegen den "Erbfeind“ Frankreich entgegenfiebert, muss sich Mila in Berlin einem Kleinkrieg erwehren, der zwar gegen sie geführt wird, deren Hintermänner und Auslöser das junge Mädchen aber nicht kennt. Und dann bricht der Erste Weltkrieg tatsächlich aus …

Jürgen Seidel blickt zurück auf den Beginn des Ersten Weltkrieges, der im Erscheinungsjahr seines vierten Romans genau 100 Jahre zurück liegt. Eingebettet in die angespannte Atmosphäre dieser  Ära, erzählt er eine Geschichte über Liebe und Mut, aber auch über Fremdenhass, Angst und Verzweiflung. Ein Buch, das jungen wie älteren Lesern zu Herzen gehen wird.


Stil und Sprache
Mit einem offen gestalteten Prolog, der zunächst etliche Fragen aufwirft, zieht Jürgen Seidel den Leser von Anfang an in seine Geschichte. Dort, im Sommer des Jahres 1914, in dem sich die Gefahr eines Kriegsausbruches wie ein blasses, aber ständig präsentes Monster verbirgt, begegnen wir Mila Pigeon. Ihre Schwärmerei für Fritz Wanlo ist in zarte, aber zugleich treffende Worte gehüllt: „Liebe ist Liebe. Dann erkannte sie, dass jeder Mensch seine eigene Liebe fühlen muss. Allen gemeinsam ist nur das Wort. Das Eigentliche gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt und gehört einem ganz und gar alleine.“ (Seite 10). Seidel erzählt in der dritten Person, bei der die Perspektive zwischen Mila und Fritz wechselt. So gibt er Einblicke in ihre Gefühle – füreinander, aber ebenso die Bedenken und Sorgen vor dem aufziehenden Krieg.

Die schwungvollen, von Ehre geprägten und propagandistischen Reden des Lehrers Janota und des Schuldirektors, mit denen die Schüler für Kriegsdienst und Heldentod begeistert werden sollen, riefen bei mir mehr als einmal Erinnerungen an Erich Maria Remarques Werk Im Westen nichts Neues hervor – fanatisch und realitätsfern des tausendfachen Sterbens auf den Schlachtfeldern. Dieses Streben nach Soldatenehre und Heldentod mag aus Sicht heutigen Denkweisen erschreckend und kaum mehr nachzuvollziehen sein, ist aber charakteristisch für die tiefgreifend militarisierte Gesellschaft des Deutschen Reiches vor 100 Jahren. Dem Vorantreiben der Kampfeslust durch Janota stellt Jürgen Seidel in der Villa am See, an der die Jungenklasse zu Beginn des Buches die „Sommerfrische“ verleben möchte, eine hochbrisante Diskussion über den anstehenden Krieg – über Mut, Verblendung, Kriegstreiberei und pazifistischen Friedenskampf – gegenüber. Im weiteren Verlauf zeigt er zudem sehr deutlich auf, welchen Stellenwert und politischen Anstoß die pazifistischen Ideen Bertha von Suttner in dieser Epoche haben.

Die Einstellungen zum drohenden Krieg werden bei den Schülern stark differenziert – zum Glück zeichnet sich ab, dass nicht alle Jungen den Heldenprahlereien Janotas und dem Hass gegen den Erbfeind blindlings folgen, sondern sich einige auch ihre eigenen Gedanken zum Krieg machen und ihn fürchten.

Die Sprachgestaltung ist auf das frühe Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts abgestimmt und spiegelt den stolzen Zeitgeist jener längst vergangenen Epoche wider. Dementsprechend sind Begriffe wie Ordinarius, Gardekürassier, Unterprimaner, Hundsfott, Söller oder Muckefuck nicht selten, die heutzutage praktisch nicht mehr bekannt sind, geschweige denn noch Verwendung finden. Ob diese Sprache für die angepeilte Leserschaft – ab 12 Jahre – geeignet erscheint, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Vielmehr würde ich das Buch als All Age Roman einstufen, denn auch bei reifen Lesern wecken die Inhalte Interesse, aber zugleich Betroffenheit.

Jürgen Seidel baut geschickt die allgegenwärtige Bedrohung des Krieges auf, verzichtet im Übrigen aber auf einen speziellen Spannungsverlauf mit Effekthascherei oder Elementen, wie man sie beispielsweise aus Thrillern kennen mag. Seine Geschichte ist subtiler, in leiseren und doch eindringlicheren Tönen erzählt, und beschreibt einerseits die gesellschaftliche und politische Situation anhand von Einzelschicksalen, die er mit brisanten und prägnanten Themen wie Homosexualität, Patriotismus, Franzosenhass, Korruption und den Gefühlen erster Liebe kombiniert.  Andererseits führt er dem Leser die Schrecken des Krieges, auch bereits vor seinem tatsächlichen Ausbruch, vor Augen. Nicht zuletzt überzeugt die Geschichte mit überraschenden Wendungen, die ihr immer wieder neuen Antrieb verleihen.

Die Dynamik der Handlungen, die sich in einem überschaubaren Zeitraum abspielen, verändern sich nach und nach: zu Beginn lässt sich der Autor für die Figuren, ihre Emotionen und für die Erlebnisse viel Zeit, wenngleich die Abfolge der Ereignisse auch hier schon hoch ist. Dies wandelt sich im dritten Teil des Buches in Passagen mit stärkerer Zeitraffung, die über manche Abläufe flotter hinweg gehen. Auch die Handlungsstränge wechseln dann in schnellerer Reihenfolge.


Figuren
Sehr gut gelungen ist Jürgen Seidel die Charakterentwicklung aller Figuren, denn an keinem von ihnen gehen die Entwicklungen des Sommers 1914 spurlos vorüber. So durchleben sie nahezu alle einen mehr oder minder stark ausgeprägten Wandel in ihrem Fühlen, Denken und Handeln. Auf Einseitigkeit wird weitestgehend verzichtet, denn fast alle Figuren haben sowohl positive, wie negative Charakterzüge. Lediglich einige wenige, die völlig skrupellos ihre Eigeninteressen vorantreiben, offenbaren ihre einseitigen Wesenszüge, sind aber in ihrer Ausgestaltung dennoch glaubhaft umgesetzt.

Für die damalige Frauenwelt, die bereits auf den ersten Seiten skizziert wird, ist Sheena Gilges überraschend forsch und redselig. Amüsant und ironisch, erzählt sie von einer bedrückenden Familiengeschichte und der Hoffnung von bedeutenden Firmeneignern auf einen Krieg zur persönlichen Bereicherung. Sie erstaunt immer wieder mit ihrer Offenheit und intelligenten Zielsicherheit.

Mila ist ein lebensfrohes, aber auch mutiges und verantwortungsvoll handelndes Mädchen. Ihren französischen Nachnamen verdankt sie ihrem Vater, den Mila kaum kennen gelernt hat. Nicht zuletzt durch diesen Namen muss sie sich im Verlauf der Geschichte nicht wenigen Anfeindungen und dem bitteren Franzosenhass, unter anderem durch die Witwe Janota, stellen.

Fritz durchlebt eine besonders starke Veränderung – seine einstige Liebe (oder war es nur Schwärmerei?) für Mila weicht Gefühlen, die er nicht versteht und mit denen er nicht umgehen kann. Seine  in der damaligen Zeit vollkommen unvorstellbaren sexuellen Neigungen hin zu einem „warmen Bruder“ fasst er daher nicht als Gefühle, sondern als auszumerzende Krankheit, als Geschwür ab. Er neigt zunehmend zu aggressiven Handlungen, zugleich schämt er sich und wünscht sich verzweifelt seine ursprünglichen Gefühle zurück – von einer Feuertaufe im Fronteinsatz erhofft er sich eine „Reinigung“. Büßt er im Verlauf der Geschichte so manchen Sympathiepunkt ein, leidet man zugleich doch mit ihm.

Eine herausragende Rolle spielt auch Wieland Hassel. Zu Beginn der Geschichte ist er noch herablassend, arrogant und nutzt sogar den Tod des Lehrers Janota für seine Zwecke aus. Geprägt wird er von seinem Vater, einem gerissenen Aristokraten, der alles dafür tut, seinen Sohn in einer erfolgversprechenden Offizierskarriere zu sehen. Doch je näher der Krieg tatsächlich auf die Schüler zu rückt, umso ernster und sympathischer wird Wieland und versteht es, den Leser nicht selten zu überraschen.


Aufmachung des Buches
Der Krieg und das Mädchen ist bei cbj als gebundenes Buch erschienen. Der Schutzumschlages trifft in seiner Gestaltung den Zeitgeist sehr gut, zugleich hat das Cover-Motiv aber wenig mit den Inhalten zu tun. Unter dem Umschlag spiegeln sich dessen Farbtöne auf den Buchdeckeln und den Vorsatzpapieren wider. Die Verarbeitung ist einwandfrei, ein Lesebändchen hätte dem positiven Eindruck noch den letzten Schliff verliehen.

Im Anschluss an seinen Roman fügt Jürgen Seidel noch eine Zeittafel und die Bilanz des Ersten Weltkrieges bei, mit der sich auch Leser, die sich in dieser Epoche nicht gut auskennen, ein Bild über die geschichtlichen Verläufe machen können.


Fazit
Jürgen Seidel zeichnet in eindringlichen, atmosphärischen Worten ein Bild des Sommers 1914, in dem der Geist und Charakter von Schülern und Erwachsenen durch den drohenden Kriegsausbruch geprägt wird. Subtil und einfühlsam skizziert er die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zugleich thematisiert Der Krieg und das Mädchen das skrupellose Streben der Mächtigen, ungeachtet der Opfer, die ihr Handeln mit sich bringt.


4 5 Sterne


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