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Ob aus ökonomischen, religiösen oder politischen Gründen – das Verjagt werden wurde im Europa des 20. Jahrhunderts zu einer Massenerfahrung und zu einem Drama, das bis heute in vielen Familien nachwirkt. Abermillionen von Vertriebenen, Flüchtlingen und Entwurzelten wurden von der Geschichte überrollt. Ein längst überfälliges Buch, das nicht aufrechnet, sondern aufklärt.

 

Die Verjagten 

Originaltitel: Wygnancy. Przesiedlenia i uchodzcy w dwudziestowiecznej Europie
Autor: Jan M. Piskorski
Übersetzer: Peter Oliver Loew 
Verlag: Siedler Verlag
Erschienen: 26. August 2013
ISBN: 978-3827500250
Seitenzahl: 432 Seiten

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Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Aufgrund des Titels und des Untertitels hatte ich einen Überblick über ein Jahrhundert der Vertreibungen, Deportationen, Evakuierungen und Flucht in ganz Europa erwartet; sowie eine Beleuchtung der Hintergründe. Allerdings behandelt der Text überwiegend die Vorgänge in Ostmittel– und Osteuropa, mit Schwerpunkt Polen. Zu den Hintergründen stellt Piskorski die These auf, dass die europäische Kolonialpolitik und die durch den 1. Weltkrieg sowie die russische Revolution verursachte Verrohung der Europäer schuld daran seien, dass nun die Pläne (aus dem 19. Jhd)  zur Homogenisierung der Bevölkerung der einzelnen Nationalstaaten in Form von ethnischen Säuberungen umgesetzt wurden, bleibt aber einen wissenschaftlichen Beweis schuldig. So wird die These zur bloßen Behauptung.

Auch schrumpft das Jahrhundert schnell auf die Zeit um den 2. Weltkrieg. Die Beschreibung der bereits in der Zwischenkriegszeit einsetzenden Deportationen und der des 2. Weltkrieges (bis etwa 1950) nimmt mehr als zwei Drittel des Buches ein. Die Vertreibungen vor und um den 1. Weltkrieg werden kurz und sachlich abgehandelt, ebenso wie die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien ab ca. 1990. Die 40 Jahre dazwischen fehlen nahezu völlig, obwohl – Zypernkrise, Ungarnaufstand und Prager Frühling werden mit wenigen Sätzen erwähnt. Ausgeklammert wird die Situation u.a. in Deutschland während des Kalten Krieges. Anscheinend wurde die Mauer nur aus Jux und Tollerei gebaut, und an der innerdeutschen Grenze keine Flüchtenden erschossen, ebensowenig wie es Ausreisewillige aus den Ländern des sg. Ostblocks gab. Die massenweise Flucht 1989 der DDR-Bürgern u.a. in die deutschen Botschaften in Prag und Warschau hat offensichtlich auch nicht stattgefunden. Gründe für die Auslassung konnte ich keine finden. Sollte es sich allerdings um ein Platzproblem handeln, dann hätte dem Kapitel zum 2. Weltkrieg eine Kürzung wahrhaftig gut getan.

Obwohl Piskorski über einen guten Schreibstil verfügt, muss man sich beim Lesen stark konzentrieren, denn er springt ständig zwischen den Staaten und Zeiträumen hin und her – mal ist er im Jahr 1942, dann 1939 und gleich darauf gehts 1941 weiter. Des weiteren nennt er häufig Zahlen, die er gleich wieder relativiert und er mischt munter Szenen aus Romanen mit Zeitzeugenaussagen. Irgendwann hab ich immer mal wieder den Überblick darüber verloren, wer da jetzt wen wann warum vertreibt, deportiert, repatriiert oder ähnliches. Besonders zieht sich das alles bei der Beschreibung des 2. Weltkrieges, weil da noch mehr Themen hineingeraten – der Holocaust, obwohl der eigentlich aus meiner Sicht zu kurz kommt, Verschleppungen der Zwangsarbeiter, Zwangsverpflichtungen in die Armeen des Feindes (z.B. Elsässer in die Wehrmacht), das Kriegsgeschehen an sich, Frauen - Opfer oder Täterinnen, das "Unwesen" der (auch jüdischen) Partisanen, sowie die politische Lage in Polen und noch ein paar mehr ... Er macht sich Gedanken darüber, dass Frauen Krisen scheinbar besser meistern als Männer, und verurteilt alle russischen Soldatinnen als "Nutten", dabei führt er Swetlana Alexijewitschs erschütterndes Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" in der Bibliographie auf, und müsste es, sofern er es gelesen hat, doch besser wissen. Also ein furchtbarer Mischmasch, zumal er auch immer wieder "neueste Forschungen" bemüht, die er nicht ausreichend und vor allem überprüfbar belegt. Wieder einmal viele Behauptungen und keine Beweise. Da fehlt mir das historisch korrekte Vorgehen. Darüber hinaus beschreibt er diesen geschichtlichen Abschnitt mit einer Emotionalität, die ich für unangebracht halte, denn sie wirkt oft genug entweder übertrieben oder larmoyant.

Trotz allem kann er dem Leser vermitteln, dass Flucht und Vertreibung bei allen Menschen, egal welcher Herkunft oder Ethnie, die gleich Spuren hinterlässt. Nicht nur das unmittelbar erlebte Leid während Vertreibungen, sondern auch das Gefühl der Entwurzelung ist ihnen gemeinsam. Sein großer Verdienst dabei ist, dass er weder Opferzahlen noch das erlebte Leid gegeneinander aufrechnet. Leider geht diese Leistung fast unter in der Masse der angesprochenen Themen.

Ganz kurz geht er auf die heutigen Flüchtlinge aus Afrika ein und zitiert dazu Remarque: "Befehle von heute können die Schande von morgen sein." Insofern scheint das 20. Jhd noch immer nicht beendet zu sein.


Aufmachung des Buches
Das Buch verfügt über einen anthrazitfarbenen Einband und der Schutzumschlag ist in Weiß gehalten. Unter dem in roten, großen Buchstaben gesetzten Titel zeigt ein Schwarzweiß-Foto Personen im Schnee auf der Flucht; möglicherweise aufgenommen während der Balkan-Kriege im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Vorsatzblätter bilden zwei Karten Europas von 1900 und nach 2008. Drei weitere Karten (Europa nach dem 1.Weltkrieg, 1942 und 1949) wurden in den Text eingefügt, ebenso zahlreiche Fotos, ebenfalls in Schwarzweiß. Wissenschaftlicher Apparat und die Bibliographie, ein Personenregister und ein Register zu Ortsnamen und geographischen Bezeichnungen, sowie die Konkordanz der Ortsnamen und geographischen Bezeichnungen schließen das Buch ab.


Fazit
Leider ist das Buch in seinem Hauptteil mit Themen überfrachtet, es will zuviel. Eine Beschränkung auf Flucht und Vertreibung und deren unmittelbare Folgen wäre besser gewesen.


2 Sterne


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