Wie eine Gefangene lebt Imma in der Wohnung einer Tante hoch im Norden Italiens, weit weg von ihrem Heimatdorf bei Neapel. Die Dreizehnjährige ist in großer Gefahr, denn als der Sohn des Clanchefs sie zu vergewaltigen versuchte, schlug sie mit einem Stein zu. Jetzt soll sie dafür bezahlen.
Die Tage am Fenster in der Wohnung der Tante scheinen endlos, und Imma sehnt sich nach ihrer Familie, nach der Natur, dem Duft von Erde und Zitronen.
Ihr Freiheitsdrang wird immer stärker, bis sie sich schließlich stundenweise hinausschleichen kann in die Stadt und dabei den jungen Buchhändler Paolo kennenlernt. Seine Bücher eröffnen ihr eine neue Welt und geben ihr den Mut, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Originaltitel: L’ora di pietra |
Die Grundidee der Handlung
Die junge Imma, die das Schicksal bereits in frühen Jahren schwer gebeutelt hat – sie verlor ihre Mutter bei einem Unfall –, muss nach einer versuchten Vergewaltigung Hals über Kopf aus ihrem süditalienischen Dorf flüchten. Sie hatte sich gewehrt und dem Täter, der dummerweise der Sohn des Mafia-Bosses war, mit einem Stein den Schädel eingeschlagen. Um größeres Unheil zu verhindern beschloss die Familie, eine alte Schuld einzulösen und das Kind in den Norden zu schaffen. Tante Rosaria soll dort auf sie aufpassen, doch immer eingesperrt zu sein hält niemand lange aus und so nutzt Imma jede Möglichkeit, die vier Wände, die sie langsam erdrücken, zu verlassen. Dort lernt sie auf einem Markt Paolo kennen, in den sie sich verliebt und der in ihr das Verlangen nach mehr Freiheit schürt. Doch die Gefahr ist einfach zu groß, sie kann ihm ihre wahre Identität nicht verraten und setzt sich selbst der Gefahr aus, entdeckt zu werden. Als eines Morgens zwei Handlanger des Paten in der Straße auftauchen, beschließt sie, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Die Autorin erzeugt mit dem Drama um Imma eine ganz besondere Atmosphäre beim Leser. Die Einsamkeit, die Bedrücktheit und die ständige Angst entdeckt zu werden sind sehr gut umgesetzt, was auch durch die Entfernung zur Heimat und der Familie verstärkt wird.
Stil und Sprache
Das Thema, das sich die Autorin gewählt hat, ist nicht ganz einfach. Vor allem für Nichtitaliener ist die schwierige Beziehung der Bevölkerung zur Mafia nur schwer nachvollziehbar. Trotzdem vermittelt Margherita Oggero diese Zusammenhänge sehr bildlich. Der Leser versteht die Situation der kleinen Imma und die der Familie, und somit auch die Entscheidung Imma zu verstecken.
Im Stile einer Biografie beginnt sie mit der Gegenwart und entführt dann den Leser Stück für Stück aus der Vergangenheit ins Heute. Dabei erzählt sie die familiären Zusammenhänge und berichtet von den Schicksalsschlägen, die am Ende unweigerlich zur Flucht von Imma geführt haben. Anfänglich sind die vielen auf den Leser einstürzenden Namen der Familienmitglieder etwas verwirrend, aber nach und nach erkennt man die klare Linie durch die Geschichte von Immas Mutter, ihrer Oma und ihrer Tante, denn am Ende treffen sich diese Stränge und der Leser lernt die Situation zu verstehen.
Das Buch ist klar als Drama zu bezeichnen, denn bei all den Teils verheerenden Ereignissen - wie zum Beispiel dem Unfalltod von Immas Mutter oder auch der Vergewaltigung und dem anschließenden Mord an Marika, den die eh schon gebeutelte Imma beobachten muss - herrscht eine durchweg bedrückende Stimmung. Der Seelenzustand des kleinen Mädchens, das nach der Szene mit dem Unfall der Mutter, bei der sie sie sterben sieht, ein Jahr lang nicht Reden kann und will hat mich tief berührt. Die Autorin erzeugt mit eindringlichen und detailreichen Beschreibungen von Szenen und Orten diese besondere, mitreißende Atmosphäre.
Selbst die ständigen Schnitte in die Gegenwart belassen das betrübliche Bild. Imma ist in ihrer Verbannung einsam, hat tagtäglich Angst entdeckt zu werden und kämpft dafür, ein normales Leben zu führen. Noch dazu macht ihr das trübe Wetter zu schaffen, sie vermisst die Heimat, die Sonne, den Duft von Erde und Zitronen.
Der Text ist leicht zu Lesen und die Personen stiften nur am Anfang etwas Verwirrung. Einziger Wermutstropfen ist der Schluss: es bleibt offen, wie es mit Immas Leben und dem der Verbrecher weitergeht, was ich persönlich etwas schade finde.
Figuren
Imma ist genau wie ihre Mutter ein verträumtes, weltfremdes aber sehr willensstarkes wunderschönes junges Mädchen. Durch ihre einzelgängerische Art hat sie quasi keine Freunde und auch der frühe Tod ihrer Mutter Melina, den sie mit ansehen musste und nach dem sie ein Jahr lang nicht mehr Sprechen wollte, sowie die Vergewaltigung und den Mord an Marika, einem Mädchen in ihrem Alter, von dem sie auch Zeugin wurde, traumatisierten sie schwer. Selbst bei einem so jungen Menschen zeigt sich die Macht der Mafia, Imma fehlt der Mut die Tat anzuzeigen, und selbst als sie selbst das Opfer ist, ist die Angst vor Rache so groß, dass Imma eher flüchtet als zur Polizei zu gehen.
Alle Figuren haben diese Eigenschaft gemeinsam. Durch den Druck der Mafia sind selbst ansonsten starke Charaktere wie Immas Oma Assunta oder ihr Bruder Antonio sehr vorsichtig und zurückhaltend. Keiner will Ärger oder gar Rache herauf beschwören.
Interessant ist auch, wie sich die Figuren entwickeln. Mit der Zeit wird Imma immer unzufriedener, sie möchte mehr vom Leben als sich nur zu verstecken. Vor allem als sie Paolo trifft und sich in ihn verguckt. Dies färbt sogar auf ihre Tante, die sie bei sich aufgenommen hat, ab. Auch sie lässt sich von den immer positiver werdenden Gedanken des Mädchens beeinflussen und fängt an ihr Leben auszukosten. Auch sie ist durch ihre Vergangenheit und diverse Rückschläge geknickt und ohne wirkliche Ziele.
Wie immer beherrschen die Bösen das Bild. Die Mafia ist allgegenwärtig und streut Angst unter die normale Bevölkerung. Wie weit ihr Arm reicht sieht man, als die beiden Mafioso vor Immas Unterschlupf auftauchen.
Eine sehr schöne Geschichte mit interessanten und vielfältigen Figuren.
Aufmachung des Buches
Das gebundene Buch zeigt auf seinem Schutzumschlag eine junge Frau, die aus einem Fenster sieht. Die Szene wirkt durch sanfte Pastellfarben und die Verwendung eines Weichzeichners verträumt und romantisch, obwohl der Inhalt mit Romantik eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Trotzdem ein wunderschönes Cover, das aber eher an einen Liebesroman denken lässt.
Durch ein orangenes Stofflesebändchen wird das Buch nochmals aufgewertet.
Fazit
Eine wunderschöne, melancholische Lebensgeschichte, mit einem überraschenden Ende, das eigentlich keines ist. Eine sehr lesenswerte Sommerlektüre, die zum Nachdenken anregt.
Hinweise
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