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„Warum hast Du Dich nicht gewehrt?“

In einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen ist es gestern zu einem Amoklauf gekommen. Dem Polizeibericht zufolge hat der 17-jährige Gymnasiast Tobias B. die grausame Bluttat im eigenen Elternhaus begonnen, wo er zunächst seinen Vater, dessen Lebensgefährtin sowie seine ein Jahr ältere Schwester mit gezielten Kopfschüssen aus einer Handfeuerwaffe tötete. Danach führte ihn der Amoklauf zu seiner Schule, wo er scheinbar gezielt Schüler aus verschiedenen Klassen aufsuchte und erschoss. Auch einen Lehrer soll der Amokläufer getötet haben.
Augenzeugen beschreiben das Vorgehen wie eine Hinrichtung. Die Polizei geht davon aus, dass die Bluttat, bei der 13 Menschen starben, bereits lange im Voraus geplant war.

Laut Zeugenaussagen war der Täter ein stiller, unauffälliger, in sich gekehrter Mensch.Niemand der Befragten hätte ihm eine solch grausame Tat zugetraut. Ungeklärt ist bislang noch das rätselhafte Ende der Tragödie, bei dem der Täter ein Buch vorgezeigt und den Ausruf „Hier steht alles drin!“ getätigt haben soll, bevor er sich mit einem Schuss in den Kopf selbst richtete.

 

Vergeltungsschlag 

Autor: Dirk Radtke
Verlag: Periplaneta
Erschienen: 07/2010
ISBN: 978-3-940767-57-8
Seitenzahl: 352 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Entgegen der Zusammenfassung auf der Buchrückseite, welche den Amoklauf aus Sicht eines Berichterstatters beschreibt, geht es in „Vergeltungsschlag“ nicht um den Amoklauf als solchen, sondern um das, was Tobias Bohrmann in den 10 Jahren, bevor er zum Amokläufer wurde, zugestoßen ist. Seit dem 8. Lebensjahr von seinem Vater, der Schwester, einer Gruppe von Klassenkameraden und später auch von der Stiefmutter immer wieder schwer misshandelt und gedemütigt, beschreibt das Buch das Martyrium eines Menschen, das zum Zerreißen seiner Seele und schließlich zu der Bluttat führt. Der Amoklauf selbst bleibt ausgespart.

Vergeltungsschlag“ ist ein schockierendes, ein sehr ernstes und vor allem auch wichtiges Buch, das den immer wieder pauschalisierten Erklärungsansätzen zu Amokläufen – Metal-Musik, „Baller“-Spiele und ähnliche Begründungen – mutig entgegentritt, ein gesellschaftliches Tabu aufgreift und ein mögliches Szenario ausarbeitet, das zu so einer Tat treibt. Der Thriller ist hart, geht immer wieder unter die Haut und ist nichts für schwache Nerven. Aber er ermöglicht den Blick auf die andere Seite und verdeutlicht, dass Amokläufer oft keine Täter, sondern vielmehr Opfer sind – denn kein Mensch wird als Amokläufer geboren…


Stil und Sprache
Der Fan von Dirk Radtkes Debütroman sollte sich bewusst sein, dass er mit dem Zweitwerk des Autors nichts Vergleichbares zu erwarten hat – während „Vernissage“ ein mit Ironie und rabenschwarzem Humor durchzogener Thriller ist, hat „Vergeltungsschlag“ einen sehr ernsten, tief schockierenden und Betroffenheit auslösenden Plot – ein purer Psychothriller. Dirk Radtke heißt mit keinem Satz seines Buches den Amoklauf, auf den sein Roman hinausläuft, gut, aber er weckt dennoch Verständnis und Mitleid für den künftigen Täter, zeigt eine andere Seite auf, und genau das macht „Vergeltungsschlag“ so wichtig.

Der Untertitel ist Programm, denn der gesamte Roman ist, in Form eines Tagebuchs, aus Sicht von Tobias Bohrmann verfasst. Hierdurch ist man dem Protagonisten so nah wie nur möglich, hat Anteil an seinen Gedanken, Ängsten, Zweifeln und schrecklichen Erlebnissen. Noch näher rückt der Leser durch die dem Buch beigelegte CD – ein Novum im Belletristik-Bereich – heran, wodurch er sogar mit dem Hauptdarsteller die Musik teilt. So hinterlässt der Roman eine besonders realistische Wirkung.

Das erste Kapitel macht direkt neugierig auf mehr: kurz und prägnant, aggressiv und verbittert zeichnet es in nur einer einzigen Szene ein Bild der momentanen Situation von Tobias, seiner Denkweise, aber auch seines Umfelds. Schon früh baut der Autor eine Spannung auf, welche die Seiten dahinfliegen lässt – eine Spannung, die aus Dramatik, Entsetzen, Verzweiflung und Schmerz geboren ist. Mit genau der richtigen Dosierung beschreibt Dirk Radtke Begebenheiten, Umgebungen und Szenen. Gekonnt schafft er mal eher freundliche bzw. ruhige, zumeist aber bedrohliche, beängstigende und düstere Situationen. Die Formulierungen sind offen und ohne Beschönigung, inhaltlich ein Ausdruck der Gemütslage des Tagebuchschreibers. Sie erscheinen hart, aber passend, wenn es z.B. in Kapitel 19 heißt: „Wie konnte Gott gut sein […]? Viel zu früh und ohne Grund. In meinen Augen war er ein blutrünstiger Kannibale, hungrig nach frischem Menschenfleisch.“

Während die von Tobias geschilderte Gegenwart an nur zwei Tagen abläuft, erinnert er sich und erzählt seine ganze tragische Vergangenheit. Der sich über den Zeitraum von 10 Jahren erstreckende rote Faden zieht sich konsequent durch das Buch, berichtet von Misshandlungen, Demütigungen und Grausamkeiten an einem Kind, dem nur Hass entgegenschlägt und das keine Chance auf Entkommen hat. So lässt der Horror, der sich Tobias achter Geburtstag nennt und über drei Kapitel erstreckt, den Leser wie betäubt und betroffen zurück, als Tobias ein ums andere mal das Ziel des unverständlichen Zorns seines Vaters wird, und sich der Tag in ein Martyrium verwandelt, das kein Ende zu finden scheint. Dies ist jedoch erst der Anfang einer Reihe nicht enden wollender Erlebnisse, die unter die Haut gehen. Kapitel 25 steigt weit über die Grenze des Entsetzens hinweg - bei der Erwartung, was gleich passieren kann, rührte sich Übelkeit bei mir, so grausam erscheint die Foltermethode, die sich sein Vater ausgedacht hat.

Das Perfide ist, dass Dirk Radtke nicht etwa rein fiktive Szenarien aufbaut, in denen er völlig haltlos übertreibt, sondern vielmehr Tobias Schicksal stellvertretend für unzählige, realistische und dokumentierte Fälle von Kindesmisshandlungen heranzieht, über die in den Medien leider viel zu oft berichtet wird.


Figuren
Die Hauptfigur dieses Romans ist Tobias, ein hochintelligentes und lebenslustiges Kind in einer zunächst funktionierenden Familie. Schon früh beherrscht er die deutsche Sprache und Grammatik weit überdurchschnittlich und wird gefördert, was den Neid seiner Klassenkameraden mit sich bringt und ihn zu einem Außenseiter stempelt. Nachdem ihm erstmalig und völlig unvorhersehbar durch seinen Vater Gewalt widerfährt, verändert sich sein Leben drastisch. Innerhalb und außerhalb der Familie wird er immer häufiger Ziel von Misshandlungen und Demütigungen. Sein Selbstvertrauen, alle seine Bindungen und sein Geisteszustand werden Schritt für Schritt systematisch zerstört, er zieht sich immer weiter in sich zurück. Im Rahmen dieses Prozesses verändert er sich zunehmend und ersinnt immer häufiger Gewaltszenarien, in denen diejenigen, die ihm dies antun, blutig dafür bezahlen …

Tobias Vater, in seiner Kindheit selbst regelmäßig geschlagen, wagt den Schritt in die Selbstständigkeit. Viel Arbeit und Stress sorgen für einen Wandel in seinem Gemüt, er wird zunehmend aggressiver und gewaltbereiter, strebt immer stärker dem Alkohol und Nikotin zu. Vermutlich ist Neid auf die Fähigkeiten seines Sohnes der Auslöser für den immer stärkeren Hass, den er auf Tobias projiziert und durch den er seine Hemmungen zunehmend abbaut, während er seine Tochter wie eine Prinzessin vergöttert. Seine Geliebte, Yvonne, zieht er recht schnell mit sich, so dass auch sie bald jeden Skrupel verliert, sich an Tobias zu vergreifen. Sarah, Tobias Schwester, strebt der Liebe ihres Vaters nach. Sie ist tückisch, und da ihr nie Grenzen aufgezeigt werden, entwickelt sie - aus den unter Geschwistern üblichen Streitigkeiten - einen boshaften Charakter.

Keiner der von Dirk Radtke ins Leben gerufenen Charaktere erscheint übertrieben oder unrealistisch, alle sind glaubhaft und fast jedem Leser in der einen oder anderen Form bereits begegnet …


Aufmachung des Buches
Der als Taschenbuch verlegte Roman zeichnet sich durch eine einwandfreie Verarbeitung aus. Die Außengestaltung zieht sich über den vollständigen Umschlag und zeigt das Foto einer Beretta -  markiert mit einem Aufkleber als Beweisstück der Spurensicherung - die in einer mit Blutspuren beschmierten Folie steckt.

Im Innern bleibt der Eindruck, dass der Verlag Platz sparen wollte, wo es nur geht. Einerseits beginnt der Roman – sehr ungewöhnlich für ein Buch – direkt auf der Rückseite des „Titel“-Blattes, anstatt wie üblich auf einer eigenen Seite zu starten. Dazu kommt die schon sehr kleine Schrift, insgesamt 41 Zeilen wurden pro Seite untergebracht. Und auch nach Abschluss der Geschichte wurde fast jeder Platz für die Danksagungen des Autors, einer Vorstellung der Band „Pandoras Tears“ und Werbung für Dirk Radtkes erstes Buch „Vernissage“ genutzt. Nicht übermäßig häufig, aber leider immer wieder stolpert der aufmerksame Leser über einige Rechtschreib-, Wortstellungs- und Zeichensetzungsfehler, die auf ein nicht ausreichend gründliches Lektorat schließen lassen. Den Lesegenuss trübt es jedoch nicht.

Erstmals überhaupt begegnete mir bei einem Belletristikwerk eine beigefügte CD, ein interessantes und spannendes Konzept.


Fazit
„Vergeltungsschlag“ geht unter die Haut – Kapitel für Kapitel. Dabei betrachtet Dirk Radtke das gesellschaftliche Tabuthema „Amoklauf“ aus der Sicht des Opfers, beschreibt die Ursachen – schockierend zeichnet sich ein über 10 Jahre andauerndes Martyrium eines Heranwachsenden. Ein wahrhaft wichtiges Werk, das aber nichts für schwache Nerven ist. Leider einen halben Punktabzug für das nicht ganz saubere Lektorat.


4 5 Sterne


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