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„Das Dorf der Wunder“ ist eine anrührende Parabel über die ehrliche Macht des Einfachen.
In seiner Heimat Norwegen ist der Bestsellerautor Roy Jacobsen einer der angesehensten Schriftsteller der Gegenwart. Nun ist sein Erfolgsroman endlich auf Deutsch erschienen. Dem Autor ist ein feinfühliger und lakonischer Roman über einen Sonderling gelungen, der zufällig zum Helden wird. Eine wunderschöne Erzählung über wärmende Mitmenschlichkeit in der klirrenden Kälte Finnlands.
„Ein Menschenleben ist nicht viel wert, aber man klammert sich doch gern daran, wenn man es nun schon hat.“ Timo Vatanen in „Das Dorf der Wunder“

 

Das_Dorf_der_Wunder  Autor: Roy Jacobsen
Verlag: Osburg Verlag
Erschienen: 26. Februar 2010
ISBN: 978-3940731340
Seitenzahl: 237 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Suomussalmi, das berühmteste Dorf Finnlands, brennt bei vierzig Grad unter Null. Die in die Geschichte als Winterkrieg eingegangene Schlacht, die nur von Dezember 1939 bis Januar 1940 währte, ist Schauplatz dieses phänomenologischen Romans. Der ungleiche Kampf, in dem die quantitativ überlegenen Russen von den nur wenige Mann starken finnischen Regimentern besiegt werden - Suomussalmi „war ein kleines Stalingrad gewesen, für die Russen, auf finnischem Boden“ (S. 223) -, wird zur Untermalung für die psychologische Studie der Zwischenmenschlichkeit.
Timo Vatanen, von allen nur als Dorftrottel stigmatisiert, entschließt sich, sein Dorf nicht zu verlassen, obwohl es niedergebrannt wird und obwohl die Sowjets ihn töten werden. Die Bewohner Suomussalmis, die ihr Hab und Gut so schnell wie möglich verstauen, belächeln ihn mitleidig oder begegnen ihm mit Geringschätzung, weil er sich nicht vorstellen kann, „an irgendeinem anderen Ort zu leben (S. 7).“ Die kleine Stadt wird zur dröhnenden Flammenhölle, um gleich danach in eine mit Ruß angereicherte Stille zu gleiten. Die Sowjets okkupieren das Dorf, nehmen die übriggebliebenen Häuser ein, aber auch Timo darf bleiben. Als Holzfäller ist er ihnen gar willkommen. Ihm werden kriegsuntaugliche Russen überantwortet, die für das Fällen von Holz beinahe ebenso untauglich sind. Er wächst über sich hinaus, arbeitet für zwei, versorgt die russischen Holzfäller mit Essen und Kleidung, erkämpft sich für sie ein Dach über dem Kopf und pflegt ihre offenen Frostwunden. Er wird ihr Held, ihr „Engel“. Nach drei Wochen der unmenschlichen Schufterei für die Sowjets entschließen sie sich, Suomussalmi zu verlassen und sich 20km durch den meterhohen Schnee zum Hof von Timo Vatanen durchzukämpfen, aber er hat seine Begleiter überschätzt. Nach wenigen Kilometern bleiben sie in der frostklirrenden Kälte zurück; auch Timo erliegt irgendwann den enormen Belastungen, die der Krieg und der Winter fordern.    
Jahrzehnte später, der Krieg ist schon in Vergessenheit geraten, liest er einen Zeitungsbericht über einen der damaligen russischen Holzfäller. Er macht sich auf die Suche nach seinen Kriegskameraden und bleibt enttäuscht zurück, als er erfährt, dass einer von ihnen in seiner Nähe wohnt und sich nicht bei ihm, ihren „Helden“, gemeldet hat.


Stil und Sprache
Roy Jacobsen, in seiner Heimat Norwegen mit Preisen ausgezeichnet, in Deutschland noch weitgehend unbekannt, gibt uns einen Einblick in den Mikrokosmos eines naiven Holzfällers während des Zweiten Weltkrieges. Obgleich der Roman mitten im Kriegsgeschehen angesiedelt ist, erzählt er keine Kriegsgeschichte, sondern es ist eine Geschichte über Moral und Selbstachtung, über die fragilen Bande einer unnatürlichen Männerfreundschaft, die sich beinahe von selbst knüpften, und es ist eine Vorführung der Jetzt-Zeit, in der es an Menschlichkeit mangelt.
Timo Vatanen, der Held dieser lakonischen Prosa, der die Schlacht von Suomussalmi unmittelbar miterlebt, zeichnet mithilfe eines unbekannten Erzählers und mit subtiler Genauigkeit die Geschehnisse des Winterkrieges nach, ohne eine kommentierende Erzählerhaltung einzunehmen und bar jeglicher Ausschmückung. Diese Einfachheit überzeugt den Leser und man folgt ihm willig. Timo wusste, er würde jemanden finden, „einen Journalisten, einen Studenten, irgendwen, der schreiben könnte, und er könnte nichts daran ändern, dass es eine andere Stimme sein würde als seine eigene und damit vielleicht auch eine etwas andere Geschichte, er würde verdammt nochmal dafür sorgen, dass sie nicht ganz aus dem Ruder lief, wie der Unfug in den Zeitungen, es würde ein ganzes Buch werden -“ (S. 231). Es ist ein ganzes Buch geworden, welches bis zum 15. Kapitel von Timo erzählt wird; die verbleibenden zwei Kapitel übernimmt der Erzähler, der Journalist, der Student oder irgendwer, der schreiben konnte, und der auch schon während der bisweilen etwas sperrig anmutenden Ich-Erzählung immer wieder hilfreich eingegriffen hat.


Figuren
Timo Vatanen, Hauptfigur und Ich-Erzähler, ist ein apodiktischer Rebell. Er nimmt für sich das Recht der Nicht-Partizipation und des Egoismus in Anspruch, in dem er sich weigert, sein Dorf zu verlassen und so indirekt an dem Krieg beteiligt zu sein. Die stoische Ruhe des Protagonisten überzeugt in seiner Einfachheit. Indessen nehmen die Einwohner Suomussalmis diese Simplizität zum Anlass ihn zum „Dorftrottel“ zu denunzieren und erkennen weder seine Lebensklugheit noch seine Leistungskraft. Auch seine russischen Helfer scheinen in ihrem eigenen Leben die Einfältigen gewesen zu sein. Timo, scheinbar der Klügste und Erfahrenste unter ihnen, der nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet, sondern seine Menschlichkeit mit jedem teilt, erreicht durch seine Besonnenheit bei den Sowjets den Status des ungefährlichen Kriegsgefangenen und kann sich in seinem Dorf relativ frei bewegen. So versucht er mit Nikolai, dem Dolmetscher zwischen den Fronten, der vorgibt, als ginge ihn der Krieg nichts an, Freundschaft zu schließen. Dieser übt sich in situativer Wendigkeit, denn einerseits verhält er sich freundschaftlich, andererseits lässt er Timo verprügeln, weil er in dem Holzfäller einen vermeintlichen Spion sieht. Er projiziert seine Unsicherheit nach außen und nutzt den Krieg als Resonanzraum für seinen Unmut.
Die Figuren, die Timo einen Monat begleiten, sind in ihrer Klarheit und Plastizität nicht durchgezeichnet. Dennoch porträtiert Jacobsen einen wahren Schmelztiegel an unterschiedlichen Charakteren, die der Krieg dazu zwingt, gemeinsam den Glauben an eine Zukunft nicht aufzugeben.


Aufmachung des Buches
Das Buch ist als Hardcover mit Schutzumschlag bei dem noch sehr jungen Osburg Verlag erschienen. Die Umschlaggestaltung von Toreros besticht durch die präzise Darstellung des zu erwartenden Plots; gezeigt wird ein Haus in einer vor Kälte klirrenden Landschaft. Das Lesebändchen, das bei keinem Buch fehlen sollte, ist farbig auf die Schrift abgestimmt.


Fazit
Roy Jacobsen schreibt über den Winterkrieg in Suomussalmi, ein Name, den jedes Kind in Finnland kennt, ein Gleichnis über die Barmherzigkeit eines Einzelnen in der Unbarmherzigkeit der Zeit. Ein Buch, das auf den ersten Blick ein Buch wie jedes andere zu sein scheint und erst nach der Lektüre seine zum Nachdenken anregende Substanz offenbart.


4 5 Sterne


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