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Kategorie: Fun

Der mehrfach preisgekrönte Galizier Miguelanxo Prado erweist sich in der Gesamtausgabe von Der tägliche Wahn als einer der größten europäischen Comic-Künstler unserer Zeit. Seine perfekte Synthese von erzählerischem Talent und unverwechselbarem Zeichenstil bewirkt in ihrer zeitlosen Entblößung menschlicher Irrationalität, dass dieses Meisterwerk unserem wahnsinnigen Dasein geradezu den Spiegel vorhält! Die Kurzgeschichten Prados sind ein Beispiel für seine ironische und fast surrealistische Weltsicht und hinterlassen meist einen bitterbösen Nachgeschmack. Häufig beginnen sie ganz harmlos, schlagen aber stets einen unerwarteten Haken, so dass die Welt des Normalen aus den Fugen gerät und in humoristischen Horror abgleitet.

 

  Originaltitel: Quotidiania delirante, Obra completa
Autor:
Miguelanxo Prado
Übersetzer: Gabriele Hoffmann La Torre, Peter Wiechmann, Rafael Sola Ferrer
Illustrationen: Miguelanxo Prado 
Verlag: Ehapa Comic Collection
Erschienen: Juni 2010
ISBN: 978-3-7704-3376-6
Seitenzahl: 202 Seiten
Altersgruppe: ab 15-16 Jahren (Empfehlung des Rezensenten)


Die Grundidee der Handlung
Die jeweils drei- bis vierseitigen Alltagsepisoden könnte man auch als satirische Cartoons in Comicform bezeichnen. Am häufigsten werden die starren Mühlen der staatlichen Bürokratie thematisiert, natürlich lässt Prado auch das ewige Thema Mann und Frau nicht aus, wobei die Frau allzu oft als Sexobjekt hingestellt wird, das ganz und gar nicht idyllische Landleben bekommt ebenso sein Fett weg wie die liebe Familie (hier wird besonders das verzerrte Bild, das Eltern von ihren Kindern haben, hervorgehoben) oder allgemein die Gesellschaft. Weitere Themen bei Prado sind u.a. übertriebene Tierliebe, gewalttätige Senioren und höllische Weihnachten.

Der Spanier Miguelanxo Prado versteht sich ausgezeichnet darauf, auf wenigen Seiten mit schön ausgearbeiteten Bildern dem alltäglichen Grauen seinen Lauf zu lassen und dabei den Nagel auf den Kopf zu treffen. Sein Humor ist jedoch nur selten subtil und von feinsinniger Art, er überspitzt viel lieber, wird grotesk und poltert ziemlich laut, ob er mitunter nicht sogar die heikle Grenze zur Geschmacks- und Pietätlosigkeit überschreitet, darüber kann man geteilter Meinung sein.
Obwohl ich bissige, groteske Satiren liebe, geht mir der Spanier in so mancher Episode mit extremen Gewaltorgien am Schluss einen entscheidenden Schritt zu weit. Ich hätte mich sicher nicht daran gestört, wenn mal der eine oder andere Idiot krankenhausreif geprügelt worden wäre, aber Prado belässt es nicht dabei, bei ihm spritzt gleich literweise Blut, hier wird man abgeknallt oder zerquetscht und Kinder, Senioren und Mütter mutieren zu mordlüsternen Bestien bzw. irren Freaks – da frage ich mich, warum kann eine Satire nicht einfach nur schwarzhumorig belassen werden, muss sie sich unbedingt in eine Horrorshow verwandeln? Doch genau darin unterscheidet Miguelanxo Prado sich eben von Anderen, was bestimmt auch mitverantwortlich für seinen Erfolg ist.


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Bei den rund 50 Geschichten kommen verschiedene Maltechniken zum Einsatz, die sich immer wieder abwechseln. Zum einen verwendet Prado Kreide, die er auf braunem Untergrund (wahrscheinlich Karton) aufträgt. Das verleiht den Zeichnungen eine satte, erdige, gleichzeitig ein wenig düstere Atmosphäre. Besonders gut kommt diese Optik bei Szenen, die sich in freier Natur bzw. auf dem Land abspielen, zur Geltung. Viel häufiger trifft man jedoch auf kräftige, leuchtende Aquarellfarben, welche die Bilder unheimlich lebendig erscheinen lassen, ohne unangenehm grell oder aufdringlich zu sein. Bei einer Geschichte (Der Pilgerweg, ab Seite 56) unterscheidet sich der Malstil grundlegend von den anderen. Hier erfährt der dezent kolorierte Untergrund durch lange, mit viel Schwung ausgeführte leuchtende Pinselstriche einen wohltuend belebenden Pepp, als hätte Vincent Van Gogh hierfür Pate gestanden.

Prado muss seine Umgebung wohl generell mit einem sehr scharfen, präzisen Blick beobachten, denn seine Bilder, die eine immense inhaltliche Palette abdecken, treffen immer haarscharf die jeweilige Situation, dabei versteht er sich auf Hintergrunddarstellungen ebenso exzellent wie auf die Zeichnung seiner Protagonisten. Da die Panels nicht sonderlich groß sind, müssen die Zeichnungen Multitalent Prado eine hingebungsvolle, akribische Detailarbeit gekosten haben, dennoch verströmen seine Bilder eine verspielte Leichtigkeit, denen die Mühe nicht anzusehen ist. Alles sieht unheimlich natürlich aus, deshalb sind aber auch die von mir bereits erwähnten Gewaltdarstellungen ebenso deutlich aus den Bildern ersichtlich wie Nacktdarstellungen. Die eigentümlichste, unverwechselbarste Handschrift ihres Meisters tragen wohl seine herrlich verschrunzelten Alten und die gewalttätigen, mit allen Wassern gewaschenen lieben Kleinen, die man in der Form bestimmt nirgendwo sonst antreffen wird. Aber auch bei allen anderen Figuren sind die charakteristischen Merkmale stets pointiert herausgearbeitet, genauso wie man das sonst eher von Cartoons und Karikaturen kennt.

Die Textblasen in Form von langen Rechtecken sind mit Großbuchstaben befüllt, dabei werden markante Wörter oder Textstellen bei Bedarf fett gedruckt, dafür kommt der Comic gänzlich ohne Geräuschzeichen- und Wörter aus. Die Textzuordnung erfolgt mit einem halblangen Strich zur betreffenden Person, so dass Verwechslungen ausgeschlossen sind. Bezüglich der Übersetzung muss ich allerdings noch einen Tadel loswerden, denn alle spanischen Namen wurden durch deutsche ersetzt, was ich irgendwie als unpassend und deplatziert empfand. Wahrscheinlich wollte man den Geschichten einen neutralen, landesunabhängigen Anstrich verpassen, da sie sich sicherlich nicht nur in Spanien so zutragen könnten, sondern genauso gut auch bei uns oder sonst irgendwo in Europa.


Aufmachung des Comics
Die schön aufgemachte Gesamtausgabe beinhaltet alle 3 Bände der in den 1990er Jahren bei Ehapa  erschienenen Einzelausgaben. Die Hardcover-Ausgabe im A4-Format hat hochglänzende, harte Umschlagdeckel und griffige, leichtglänzende Seiten im Innenteil. Dem Comicteil vorangestellt ist ein sehr persönlich verfasster Prolog des spanisch-mexikanischen Schriftstellers Paco Ignacio Taibo II über Prados Werk. Im Anhang an den Comic findet sich eine kleine Cover-Galerie mit 3 Illustrationen anderer Ausgaben (hier hätten es meiner Meinung nach ruhig ein paar mehr sein können, z.B. die der deutschen Ausgaben in den 1990er Jahren), eine Biografie von Miguelanxo Prado, ein Skizzenblatt sowie zum Schluss eine Bibliografie.
Die Coverillustration bezieht sich auf die Geschichte „Landflucht“ (ab Seite 68), taucht aber in der Form im Comic nicht auf. Sie charakterisiert dennoch alles, was den Inhalt von „Der tägliche Wahn“ ausmacht, nämlich die Irrationalität und die Grausamkeit des Alltags, dargebracht in humorvollen, überspitzten und pointierten Szenen.


Fazit
Ich kann den Comic wirklich allen empfehlen, die humorvolle und satirische Alltagsgeschichten lieben. Miguelanxo Prado versteht es wie kein anderer, die Abgründe unseres Daseins in kurze Comicszenen umzusetzen (normalerweise ist dies eher den Cartoons vorbehalten). Er ist ein absolutes Multitalent, der das ironische, pointierte Geschichtenerzählen genauso exzellent beherrscht wie das Zeichnen und Kolorieren. Einen Stern Abzug mache ich deshalb, weil für mich in manchen Szenen das Groteske – gegen das ich grundsätzlich nichts einzuwenden habe – zu sehr in blutrünstige Gewalttätigkeit umschlägt. Aber dieser Punkt ist natürlich Ansichts- und Geschmackssache.


4 Sterne


Hinweise
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