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Kategorie: Sonstiges

Ein Schriftsteller mit der unheilvollen Neigung, Menschen, die ihm nahestehen, zu Literatur zu machen, ein verwirrter Internetblogger, ein Abteilungsleiter mit Doppelleben, ein berühmter Schauspieler, der lieber unbekannt wäre, eine alte Dame auf der Reise in den Tod: Ihre Wege kreuzen sich in einem Geflecht von Episoden zwischen Wirklichkeit und Schein. Ein Spiegelkabinett voll unvorhersehbarer Wendungen – komisch, tiefgründig und elegant erzählt vom Autor der „Vermessung der Welt“.

 

Ruhm_Kehlmann 

Autor: Daniel Kehlmann
Verlag: Rowohlt
Erschienen: Januar 2009
ISBN: 978-3-498-03543-3
Seitenzahl: 202 Seiten

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Die Idee, Stil und Sprache
Wie der Titel schon sagt, geht es in allen Geschichten um Ruhm bzw. um das Berühmtsein. Drei Autoren und zwei Schauspieler, die es zu einer gewissen Berühmtheit brachten, und Normalos wie unsereins treffen immer wieder aufeinander, dabei jongliert Kehlmann geschickt mit Identitäten, Wahrnehmungsebenen, Sein und Schein, Wirklichkeit und Traum, so dass sich die Protagonisten irgendwann fragen: Wer bin ich? Existiere ich wirklich oder bin ich nur eine erdachte Figur und Teil der Geschichte? Was ist Realität, was Illusion? Bin ich wach oder träume ich? Auszug aus „Ein Beitrag zur Debatte“: Wenn einer so viel (im) Internet unterwegs ist wie ich, dann weiß er, dass – wie soll ich’s sagen? Also dann weiß er, dass Wirklichkeit nicht alles ist. Dass es Räume gibt, in die man nicht mit dem Körper geht. Nur in Gedanken und trotzdem da.

Ich kann mir gut vorstellen, wie der Schalk in Daniel Kehlmanns Nacken saß, als er sich seine 'ruhmreichen' Geschichten ausdachte, denn er narrt nicht nur seine Protagonisten, auch der Leser weiß vor lauter überraschenden Wendungen und abgehackten Plots ohne Auflösung bzw. offenen Enden bald nicht mehr, was er glauben soll. Alles ist möglich, nichts unmöglich. So verwundert es nicht einmal, dass sich plötzlich eine Figur mit ihrem Schöpfer (Kehlmann) 'unterhält' und ihn bittet, den Plot abzuändern („Rosalie geht sterben“).

Als weiterer kluger Schachzug, der die Spannung und das Lesevergnügen anheizt, dient bzw. dienen eine oder mehrere Personen als Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden. Ich ertappte mich schon nach den ersten zwei Geschichten, wie ich jedes Mal regelrecht darauf lauerte, die Verbindungsperson zu entdecken. Je weiter man mit dem Lesen kommt, desto klarer fügen sich die vielen Puzzleteilchen aus den einzelnen Episoden zu einem Gesamtbild zusammen. Doch nicht alle Fragen werden bis zum Schluss beantwortet, vieles bleibt vage im Raum stehen und überlässt dem Leser Gelegenheit zur Selbstinterpretation. Ich persönlich empfand dies keineswegs als störend, ganz im Gegenteil, ich denke, es macht den Reiz von „Ruhm“ aus und passt hervorragend ins Gesamtkonzept.

„Ruhm“ ist vom sprachlichen Aspekt her keine schwere Lektüre. Auch die Länge der einzelnen Geschichten, die zwischen 10 und 25 Seiten variiert, lässt zu, sie jeweils am Stück zu lesen, was sie zur perfekten Nachttischlektüre macht.


Figuren
Es ist generell eine große Kunst, auf so wenig Raum eine Person zum Leben zu erwecken und deren Charakter treffend herauszuarbeiten, so dass schnell Nähe entsteht. Aber einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren wie Daniel Kehlmann beherrscht natürlich sein Handwerk. Schon nach wenigen Sätzen formt sich für den Leser ein Bild der Figur, das zunehmend klarer wird. Selbst der schrägste Charakter - ein besessener Internetblogger, der zum psychopathischen Stalker wird („Ein Beitrag zur Debatte“) - ist so ausgearbeitet, dass seine Beweggründe nachvollziehbar sind. Teilweise litt ich richtig mit und hoffte auf ein versöhnliches Ende, z.B. mit der todkranken Rosalie, die Kehlmann höchstselbst um Gnade bittet („Rosalie geht sterben“) oder einer Krimiautorin, die bei einer Schriftstellerrundreise in Zentralasien 'vergessen' wird und nun ohne Bargeld, einem Handy mit leerem Akku und Sprachschwierigkeiten hungrig umherirrt („Osten“). Eine tragische Figur ist auch der populäre Schauspieler Ralf Tanner („Der Ausweg“). Sein Wunschgedanke, weniger berühmt zu sein, wird auf groteske Weise Wirklichkeit. Zuerst straft ihn seine Umgebung aus heiterem Himmel mit Nichtbeachtung, ohne dass es für ihn eine Erklärung gäbe, dann bemächtigt sich sogar ein Doppelgänger seiner Identität und spielt die Rolle des Schauspielers Ralf Tanner perfekter, als er es selber je vermochte. Aber nicht allen Protagonisten legt der Autor Stolpersteine in den Weg, es gibt auch genügend positive Wendungen, um das Ganze auszubalancieren.


Aufmachung des Buches
Das Foto auf dem kreppartigen Schutzumschlag der Hardcoverausgabe mit Lesebändchen zeigt eine gebirgige Seenlandschaft aus der Flugzeugperspektive, von der aber ein Großteil schattenhaft schwarz bleibt, darauf sind Autoren- und Titelname in Kleinbuchstaben aufgedruckt. Da unter anderem auch das Fliegen eine Rolle in Kehlmanns Erzählungen einnimmt, ist das Motiv durchaus eine treffende Wahl. Im Anschluss an die Geschichten folgt das Inhaltsverzeichnis. Als ganz besonders angenehm empfand ich übrigens das Schriftbild, das weder zu klein noch zu groß ausfällt und einen großzügigen Zeilenabstand hat.


Fazit
Der einfallsreiche, ineinandergreifende Erzählreigen bietet trotz einer gewissen Verspieltheit niveauvolle Unterhaltung mit Nachklang. Seit langem konnte mich kein Kurzgeschichtenband mehr so beeindrucken und gefangen nehmen. Wem der Atem oder die Zeit für einen kompakten Roman fehlt, er auf gute Belletristik dennoch nicht verzichten möchte, der sollte hier unbedingt zugreifen.


5 Sterne


Hinweise

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