Smaller Default Larger

Villette, Belgien, 24. Juni 1994: Drei Mädchen laufen nachts von der Johannisprozession zurück in ihr Heimatdorf. Kurze Zeit später werden sie tot aufgefunden. Auf der Suche nach dem Mörder wird die junge Untersuchungsrichterin Martine Poirot mit einem dunklen Kapitel ihrer eigenen Familiengeschichte konfrontiert.

 

  Autor: Inger Hedström
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 02/2010
ISBN: 978-3518461280
Seitenzahl: 402 Seiten 


Die Grundidee der Handlung
Martine Poirot ist Untersuchungsrichterin in Villette, einer Kleinstadt in Belgien. Als sie in der Johannisnacht Bereitschaftsdienst hat, hofft sie, dass möglichst wenig passiert. Aber es passiert natürlich doch etwas. Drei junge Mädchen werden am Flussufer tot aufgefunden, offenbar wurden sie auf dem Nachhauseweg abgefangen. Schnell ist ein möglicher Täter gefunden: Der Sohn eines etwas zwielichtigen Gebrauchtwagenhändlers hatte die drei ein Stück in seinem Auto mitgenommen. Doch bereits nach wenigen Stunden stellt sich heraus, dass er es nicht gewesen sein kann und Martine Poirot muss den wahren Täter finden. Das aber gestaltet sich äußerst schwierig und es entwickelt sich eine komplexe Ermittlung, die weit in die Vergangenheit zurückreicht und auch Martines Familie nicht unberührt lässt.


Stil und Sprache

Zunächst fällt bei diesem Roman die ungewöhnliche Wahl der Zeit auf. Warum lässt man einen Mord im Jahr 1994 spielen, wenn man ihn genauso gut in der Jetztzeit geschehen lassen könnte? Die Erklärung ergibt sich natürlich aus der Handlung, soll aber hier nicht verraten werden, um nicht zuviel vorweg zu nehmen. Dann ein weiterer interessanter Punkt: Eine Schwedin schreibt einen Krimi, der in Belgien spielt. Auch das ist logisch, hat Inger Hedström doch lange Jahre in Belgien gelebt. Aber das Auffälligste an diesem Buch ist der doch sehr ungewöhnliche Umgang mit wörtlicher Rede. Statt Anführungszeichen werden hier jeweils nur Spiegelstriche gesetzt und jeweils ein neuer Absatz begonnen. Das ist nicht nur gewöhnungsbedürftig und man muss sich als Leser schon ziemlich konzentrieren, um alles richtig mitzubekommen, das erzeugt auch eine seltsame Distanz zum Geschehen. Ich zumindest habe mich nie wirklich in die Handlung einbezogen gefühlt, sondern hatte immer das Gefühl, irgendwie über der Szenerie zu schweben. Ob die Autorin das so beabsichtigt hat, wird wohl im Dunkeln bleiben; ich fand es sehr schade, zumal durch die fehlenden Anführungszeichen sehr viel öfter die Notwendigkeit besteht, „sagte xy“ einzufügen. Auch wirkt der Gesamttext insgesamt optisch etwas eintönig, bei über 400 Seiten ist das schon ein Kriterium …

Eigentlich ist die Geschichte aber gut konstruiert und interessant, Inger Hedström ist es durchaus gelungen, die enge Kleinstadtatmosphäre der fiktiven Stadt Villette einzufangen. Wie seit Jahrzehnten bestimmte Familien ihre gesellschaftlichen Rollen spielen, wie sie es nicht schaffen, ihre „Schubladen“ zu verlassen, in die sie eingeordnet sind, das ist schon sehr eindringlich dargestellt. Aus stetig wechselnden Perspektiven erzählt Inger Hedström eine komplexe, aber sehr logische und intelligent aufgebaute Geschichte, die zwar ein bisschen langsam in Schwung kommt, dann aber in einem aufregenden Finale gipfelt.
Das alles ist spannend gemacht und auch an sich gut und mit ein paar hübschen Bildern („Damals hatte er das Wort „Ravensbrück“ gehört. Es fiel heraus, schwarz und schwefelgelb mit seinen harten, fremden Lauten […].“ S. 35) erzählt, aber trotzdem springt der Funke irgendwie nicht über, so dass dieser Roman für mich eher im Krimi-Mittelfeld anzusiedeln bleibt. Ein paar kleinere Lektoratsfehler fallen dabei zwar nicht ins Gewicht, sollen aber dennoch hier Erwähnung finden. Inwieweit eine etwas spritzigere Übersetzung vielleicht mehr Schwung in die Sache gebracht hätte, ist schwer zu beurteilen, aber vorstellbar ist es allemal.


Figuren

Am Ende des Buches findet sich ein Personenregister und das ist auch nötig, fällt es doch einfach aufgrund der Vielzahl der handelnden Personen bis zum Schluss schwer, die Akteure und ihre komplizierten Beziehungen untereinander im Überblick zu behalten. Natürlich ist Martine Poirot (ja, der Name ist eine Anspielung auf Belgiens wohl berühmtesten Detektiv…) die Hauptakteurin, aber hier spielen so viele Familienmitglieder aus Gegenwart und Vergangenheit, tot wie lebendig, eine Rolle, das wäre schon fast einen Stammbaum wert gewesen.
Martine selbst bleibt dem Leser eher fremd, sie ist zwar nicht unsympathisch, aber sehr zurückhaltend und beherrscht. Ihre Rolle als Untersuchungsrichterin ist ihr sehr wichtig, aber sie muss dafür jeden Tag aufs Neue kämpfen, widerspricht sie doch ihrem natürlichen Bedürfnis nach Harmonie und Freundschaft. Von allen anderen Personen erfährt man nur die jeweils herausstechenden Details, die für die Handlung wichtig sind. Da ist etwa Martines Nichte mit ihrem Modetick, ihr homosexueller Bruder, der sich eben in der Szene auskennt oder Martines Assistentin Julie, die aus einer Roma-Familie stammt und permanent gegen Vorurteile ankämpft. Wie Martine auch sieht der Leser sie durch eine Art Schleier, sie bleiben auf Distanz und lassen ihn nicht wirklich mitfühlen.


Aufmachung des Buches
Das Taschenbuch ist in „nebligen“ Grautönen gehalten und zeigt einen Vogel, der auf einigen aus dem Wasser ragenden Ästen sitzt. Einer Flusslandschaft nachempfunden, passt diese Aufmachung gut zum Inhalt und hat mich dazu bewogen, das Buch lesen zu wollen. Der etwas einfallslose Titel allein hätte das vermutlich nicht geschafft. Die nummerierten Kapitel im Innern sind relativ lang und jeweils mit dem Tagesdatum überschrieben. Am Ende gibt es, wie schon erwähnt, noch ein knappes Personenregister.


Fazit

Kein typisch schwedischer Krimi, obwohl er von einer Schwedin geschrieben wurde. Mich konnte „Die toten Mädchen von Villette“ nicht vollends überzeugen. Zwar nicht langweilig, aber auch nicht besonders packend, wird durch einen etwas experimentellen Schreibstil eine an sich sehr gute Geschichte hier leider verschenkt.


3 Sterne


Hinweise
Dieses Buch kaufen bei: amazon.de

„Die toten Mädchen von Villette“ ist der zweite Teil einer Reihe, die in mindestens vier Folgen geplant ist. In Schweden sind bereits drei Teile veröffentlicht, warum bei uns mit dem zweiten Band begonnen wurde, ist mir allerdings nicht klar geworden.

Facebook-Seite

FB

Partnerprogramm

amazon

Mit einem Einkauf bei amazon über diesen Banner und die Links in unseren Rezensionen unterstützt du unsere Arbeit an der Leser-Welt. Vielen Dank dafür!

Für deinen Blog:

BlogLogo