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Jerusalem, zur Zeit der Kreuzzüge und Tempelritter: "Nathan der Weise", Lessings Plädoyer für religiöse Toleranz, gehört zur Weltliteratur. Klug, weitsichtig und brillant erzählt Mirjam Pressler den klassischen, doch hochaktuellen Stoff neu – provozierend zeitgemäß. Aber nicht ohne Hoffnung für eine friedliche Koexistenz der drei großen Religionen.

"Poetischer als Mirjam Pressler kann man kaum begründen, warum Geschichten erzählt werden müssen" Literarische Welt

 

  Autor: Mirjam Pressler
Verlag: Beltz Verlag
Erschienen: 21. Dezember 2009
ISBN: 978-3-407-81049-6
Seitenzahl: 264 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Das Theaterstück "Nathan, der Weise" gehört noch immer zur Pflichtlektüre an Schulen und Mirjam Pressler kam auf die eigentlich naheliegende Idee, daraus einen Jugendroman zu machen. Im Wesentlichen hält sie sich an die Vorgaben des Lessingschen Stückes. Nathan lebt mit seiner Tochter Recha im Jerusalem des 12. Jahrhunderts zur Zeit des 3. Kreuzzuges. Ein Tempelritter, dem zuvor Saladin das Leben geschenkt hat, rettet Recha aus dem brennenden Haus Nathans. Dadurch verknüpfen sich die Schicksale dieser vier Personen. Vieles, was bisher Gewissheit schien, ändert sich nun - vor allem für Recha und den Tempelritter. Pressler ergänzt ihren Roman durch die Geschichte des Waisenjungen Geschem, der im Haushalt Nathans lebt. Gänzlich anders und unerwartet fällt dagegen das Ende der Erzählung aus. Man darf also gespannt sein.


Stil und Sprache
Pressler gestaltet ihren Roman recht ungewöhnlich -  nahezu alle handelnden Personen berichten als Ich-Erzähler von den Ereignissen in und um Jerusalem. Zunächst ist dies recht anstrengend zu lesen - kaum hat man sich auf den Erzähler eingelassen, wird man schon wieder aus dem Geschehen gerissen. Was wie ein Wechselbad wirkt, wird aber - je länger man liest - umso interessanter und spannender. Rasch lernt man diesen "journalistischen" Stil zu schätzen, denn die vielen verschiedenen Beschreibungen ein- und desselben Geschehens erweitern den Horizont. Gegen Ende des Romans hastet die Autorin dann allerdings von Ereignis zu Ereignis und man erhält die Informationen meist nur noch aus einer Hand. Leider verliert man dabei ein wenig den Überblick und gewinnt den Eindruck, die Autorin langweile ihre eigene Idee inzwischen und sie möchte endlich ans Ende ihres Buches kommen. Bedauerlich finde ich, dass sie weder Nathan noch Saladin selbst zu Wort kommen lässt. Es wird immer nur über sie gesprochen, fast wie der Tratsch in einem Dorf.
Während sich zunächst jeder der Sprecher durch einen eigenen Stil auszeichnet, verliert sich das später und anhand ihrer Ausdrucksweise lassen sich die einzelnen Personen nicht mehr auseinander halten. Sie alle sprechen manchmal poetisch, oft bildhaft und dadurch sehr anschaulich (S.36: "[...] um diese Stadt unter einem Himmel zu sehen, der so blau war, dass es einem in den Augen wehtat."), zuweilen allerdings auch recht blumig und theatralisch. Die Erzähler malen gemeinsam am Bild der Stadt und ihrer Menschen. Durch die Verwendung altertümlich anmutender Worte (Spezereien) und Ausdrücke ("mit heißem Herzen") erhält die Geschichte ein hohes Maß an Authentizität. Dazu trägt auch bei, dass Pressler nicht davor zurück schreckt, die brutalen und grausamen Handlungen der Christen und Muslime zu beschreiben, die sich gegeneinander aber auch gegen die Juden richten. Mit der Schilderung der Steinigung eines jungen Hundes durch spielende Kinder geht sie aber zu weit. Zudem ist der Roman vollgestopft mit Informationen zu den Kreuzrittern, den Muslimen, den Religionen (Zitate aus Bibel und Koran), der Stadt Jerusalem, den jeweiligen Kulturen, zur Balsamherstellung und und und ... Meiner Meinung nach zuviel des Guten, denn die philosophischen Gedanken Al-Hafis und die berühmte "Ringparabel" bemerkt man kaum noch. Pressler ordnet der realistischen Beschreibung der Zeit leider fast alles andere unter.

Nun noch ein Wort zu dem veränderten Schluss. Ohne hier zuviel zu verraten, möchte ich doch darauf eingehen. Einerseits verzichtet sie auf ein Happy End a la Lessing - das zugegebenermaßen heutzutage etwas konstruiert wirkt -, da hat sie klug entrümpelt. Indem sie aber eine der Figuren ermorden lässt, schreibt sie einen neuen Roman, der mit dem ursprünglichen Text gar nichts mehr zu tun hat, trotz des "identischen" Inhalts. Die Vision, die Lessing hatte, nämlich dass das Miteinander der verschiedenen Kulturen und Religionen gelingen kann, wird zugunsten der Aussage, dass jedes (Waisen-)Kind eines Tages ein liebevolles Zuhause finden wird, aufgegeben. Im Grunde wird sie sogar negiert, denn der Mord zeigt deutlich, dass die Vorurteile eben nicht überwunden werden können. Warum diese Beschränkung aufs Familiäre? Hat uns Lessing heute nichts mehr zu sagen?


Figuren
Der Fokus der Autorin liegt auf Recha und Geschem, ihr Schicksal bestimmt den Roman. Es sind die Nebenfiguren des Theaterstücks, die die Handlung voranbringen, gemeinsam mit den von Pressler erfundenen Personen wie Geschem oder Abu Hassan. Ihre Sorgen und Nöte erfährt man, ihre Verzweiflung, aber auch ihre Freuden. Man begleitet Recha beim Erwachsenwerden - ein schwieriger Prozess, den sie aber mit Bravour meistert. Anders als beim Tempelritter sind wir bis zuletzt Zeuge ihrer Entwicklung. Ihn verlässt Mirjam Pressler mitten in einer Sinnkrise und nimmt den Faden nicht wieder auf. Warum? Ähnlich verfährt sie auch mit anderen Personen: sie tauchen kurz auf und verschwinden wieder. Saladin und Nathan werden gar zu Nebenfiguren degradiert, die auch noch ziemlich blass bleiben. Was treibt sie an? Wieso lässt sich Saladin von Nathans Ring-Geschichte überzeugen? Fragen über Fragen, auf die man keine Antwort erhält. Auf mich wirkt dieser ganze Komplex wie ein Fremdkörper innerhalb des Buches.

Wie schon im Roman insgesamt bemüht sich die Autorin auch bei den Figuren um ein Höchstmaß an Authentizität, vor allem was deren Lebensumstände betrifft. Die Personen selbst, mit Ausnahme Rechas, verliert sie dabei etwas aus den Augen, sie sind sich alle zu ähnlich, als dass man sich mit einer von ihnen identifizieren könnte oder wenigstens Sympathie empfände.


Aufmachung des Buches
Mit diesem Buch hat sich der Verlag viel Mühe gegeben: fester, dunkelroter Einband, hellrotes Lesebändchen, griffiges, leicht gelblich getöntes Papier. Auch der Umschlag mit dem Cover ist einfach nur schön: zartgelb mit sehr feinen weißen, stilisierten Granatapfelblüten, die den Hintergrund für den eigentlichen Hingucker, einen roten Granatapfel, bilden. Im unteren Bereich des Covers kann man zart koloriert eine historische Ansicht von Jerusalem mit dem Felsendom im Mittelpunkt betrachten - leider nicht ganz, denn der Aufkleber des internationalen Buchpreises "Corine" verdeckt ca. ein Drittel des Gemäldes. Der untere Rand wird von einem schmalen Band kleiner "Kacheln" mit verschiedenen graphischen Mustern abgeschlossen.

Eine Zeittafel, mit den wichtigsten Ereignissen der Kreuzzüge, ein ausführlicher Zitatenachweis und die Anmerkungen der Autorin schließen das Buch ab.


Fazit
"Nathan, der Weise" hat mich als 16-jährige beeindruckt, bei "Nathan und seine Kinder" ist das leider anders. Ein passabler Roman übers Erwachsenwerden, mehr aber auch nicht. Was hat die Jury veranlasst, dieses Buch auszuzeichnen? Was hat sie darin gefunden, was mir scheinbar entgangen ist?


3 Sterne


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