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- Eins ist ja wohl klar, ganz Notre-Dame wartet auf diese Hochzeit! Hick!
- Insbesondere gewisse weibliche Mitglieder meiner Gemeinde…
- Ach, die sollen sich zum Teufel scheren, die drei alten… Hick!... Schätzchen!
- Nein, Noel, so kann es nicht… Hick! So kann es nicht weitergehen!
- Hör mal, S…Serge! Dann heirate sie doch! Hick! Es kommt doch
  niemand nachsehen, was in eurem Bett passiert! Hick!

Mit dem Frühling halten in Notre-Dame am See nicht nur milde Temperaturen Einzug, die Einwohner des Provinznests tun es dem Wetter gleich und offenbaren den weichen Kern unter ihrer rauen Schale: Sie nehmen den eben noch mit Argwohn oder Schlimmerem bedachten Zuwanderer Serge in Bausch und Bogen in ihrer Mitte auf. Wenn Serge und Marie, die hübsche Besitzerin des Krämerladens, nun noch Ordnung in ihr Privatleben brächten, es herrschte allseits eitel Sonnenschein! Doch das vermeintliche Liebespaar denkt gar nicht daran, zu heiraten…

In stimmungsvollen Bildern versetzen Régis Loisel („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“, „Peter Pan“) und Jean-Louis Tripp den Leser in die kanadische Provinz der 1920er-Jahre und entfalten vor seinen Augen eine höchst menschliche Geschichte voller melancholischer Heiterkeit. 

 

  Originaltitel: Magasin Général - Confessions
Autor:
Régis Loisel, Jean-Louis Tripp
Übersetzer: Martin Budde
Illustrationen: Régis Loisel, Jean-Louis Tripp
Verlag: Carlsen Comics
Erschienen: Dezember 2009
ISBN: 978-3-551-76054-8
Seitenzahl: 70 Seiten
Altersgruppe: ab 14 Jahren


Die Grundidee der Handlung
Sapperlot! Das war ja eine dicke Bombe, die Serge am Schluss des 3. Bandes vor Marie platzen ließ! Damit hatte wohl keiner gerechnet, am allerwenigsten Marie. Jetzt würde Serge am liebsten so tun als ob nichts geschehen wäre und zwischen ihnen alles so belassen wie es ist, doch Marie macht dieses Spiel nicht mit. Sie geht in die Offensive, beißt bei Serge aber nur auf Granit. Die Gefühle kochen auf beiden Seiten hoch, was so manchem engen Freund des Paares (darf ich sie überhaupt noch als solches bezeichnen?) nicht verborgen bleibt. Bei einem feuchtfröhlichen Trinkgelage ersinnt man daraufhin einen schlauen Plan, wie Serge aus der Sache ungeschoren davonkommen könnte, ohne dass die engstirnigen Hinterwäldler misstrauisch ob der ausbleibenden Hochzeit werden. Damit mag Serges Arsch zwar gerettet sein, aber was wird aus Marie?

Neben Serge, Marie und dem Pfarrer, der ja in jedem Band die zentralste aller Nebenpersonen ist, ragen in dieser Folge der blinde Kriegsveteran Isaac und der kauzige, alte Schiffsbauer Noel heraus. Von letzterem erfährt man, auf welche Weise er sein Auge verlor und Seelentröster Isaac steht sowohl Marie als auch Serge neutral zur Seite. Eine unverhofft wichtige Rolle spielt diesmal auch Dorftölpel Gaetan, der Serges Zukunft in neue Bahnen lenkt…


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Mit Einkehr des Frühlings erwarten den Leser zum ersten Mal seit Band 1 wieder helle, sonnendurchflutete Bilder mit viel Grün, himmelblauem Horizont, blühenden Gräsern und Wiesen, allgegenwärtigem Vieh und herumschwirrenden Insekten in der warmen Luft. Doch diese optische Leichtigkeit vermag nicht so recht über die melancholisch-bedrückte Stimmung, die von Marie und Serge ausgeht, hinweghelfen. Maries Traurigkeit, die man fast greifen kann, erinnert ebenfalls an Band 1, wo sie gleich zu Beginn mit dem Tod ihres Mannes zur Witwe wurde. Ihre großen, tränenverschleierten Augen schauen einen so durchdringend in all ihrer Hoffnungslosigkeit an, dass ich am liebsten tröstend den Arm um sie gelegt hätte. Und noch ein Ereignis weckt Erinnerungen an den ersten Band, denn es heißt von einer liebgewonnen Person Abschied nehmen. Im Gegensatz zu damals, als die Dörfler für den Leser noch eine anonyme Menschenmasse waren, sind diesmal aber schon viele bekannte Köpfe unter denjenigen auszumachen, die um das offene Grab stehen. Die absolut großartigste Bildstrecke dieses Bandes erwartet den Leser ab Seite 24, wo man auf höchst amüsante Weise mit verfolgen kann, mit welch friedlichen Mitteln stark erhitzte, aufgewühlte Gemüter Dampf ablassen und sich Erleichterung verschaffen, ganz ohne großes Gezeter oder Handgreiflichkeiten.

Besonders angenehm fällt mir jedes Mal aufs Neue die akribische Licht- und Schattendarstellung auf. Sie beschränkt sich nicht nur darauf, wirklich alle Personen und Gegenstände mit Licht- und Schatteneffekten zu versehen, hier werden sogar Schattenwürfe von Gegenständen außerhalb des Bildausschnitts berücksichtigt (auf Seite 9 ist es der Schatten von Maries Kopf, auf Seite 41 ein Gebäudeschatten auf dem Hof). Als weiteres Paradebeispiel dieser mühevollen Kleinarbeit sei auch die Picknickszene auf den Seiten 13-14 erwähnt: Marie und Serge sitzen unter einem Baum, durch dessen Blätterdach sich ein paar Sonnenstrahlen verirren, folglich fallen die Bilder so gescheckt wie das Fell einer Kuh aus.

Stutzig machten mich dagegen gleich auf den ersten Seiten einzelne Bilder, die nicht vollständig koloriert sind. Hier ließ man absichtlich einen Teil der Personen original bleistiftschraffiert. Daraufhin begutachtete ich irritiert nochmal die Bände 1-3, ob mir dieses Phänomen bisher etwa entgangen ist. In den Vorgängerbänden sind Personen im Hintergrund auch nicht immer bunt koloriert, doch wenigstens wurde mit einer einheitlichen Farbe das Bleistiftgrau überdeckt, so dass man als Leser nicht den Eindruck erhält, Loisel & Tripp hätten was vergessen oder übersehen. Von der bewährten Linie mit stets gedeckten Farben und realistischen Bildern weicht auch Seite 62 ab, deren Optik ich reichlich surreal und dementsprechend unpassend empfand. Sind dies etwa erste Vorboten für größere Veränderungen in der Kolorierung? Hoffentlich nicht, denn so wie uns die Serie bisher präsentiert wurde, war sie absolut perfekt und stimmig.

Auch in diesem Band wird nicht übertrieben viel geredet, so dass ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Bild und Text besteht und ein flüssiges Lesen durchgehend gewährleistet ist. Das bewährte Konzept mit der Aufteilung von umfangreichem Text auf mehrere Sprechblasen, behält man auch hier bei. Geräusche werden comictypisch mittels Großbuchstaben in den Zeichnungen kenntlich gemacht, dies ist aber nur gelegentlich der Fall und überhaupt nicht störend.


Aufmachung des Comics
Der Comic ist in exquisiter Machart, mit hochglänzenden, harten Umschlagdeckeln im A4 Format gebunden, der Innenteil hat griffige, seidenmatte Blätter. Diese Bände sind so robust, dass sie bei pfleglicher Behandlung von Generation zu Generation weitergereicht werden können. Wie gehabt, erwarten uns auf den Vor- und Nachsatzblättern Lageskizzen von Notre Dame am See, ebenso wird uns Loisels und Tripps Arbeit anhand eines Szenebeispiels veranschaulicht. Am Ende des Comics findet sich eine Aufstellung über Loisels und Tripps in Deutschland veröffentlichte Bücher.

Das Bild auf dem Cover ist ein Ausschnitt aus der Handlung. Es zeigt Marie und Serge in vermeintlich friedlicher Eintracht beim Beobachten des nächtlichen Sternenhimmels, doch die Idylle trügt… Ob sich mit einem so dunklen Coverbild neue Anhänger für die Serie anlocken lassen, ist zweifelhaft, aber da „Das Nest“ sich in Comickreisen zu Recht einer großen Beliebtheit erfreut, steht nicht zu befürchten, dass der Band ein Ladenhüter wird.


Fazit
Der mit Band 1 begonnene Jahreszeitenzyklus schließt sich mit diesem Band, denn es ist wieder Frühling in Notre Dame am See. Obwohl die Bilder im Hintergrund mit dem Erwachen neuen Lebens in der Pflanzen- und Tierwelt große Leichtigkeit und Energie verströmen, bleibt die sorgenerfüllte, stimmungsdrückende Handlung davon zunächst unbeeinflusst, erst gegen Ende eröffnen sich sowohl für Serge als auch Marie neue Perspektiven und Möglichkeiten, die den Leser voller gespanntem Erwarten auf den nächsten Band entlassen.

Die Kanadier Régis Loisel und Jean-Louis Tripp sind ein wahres Dreamteam, dem alles leicht von der Hand zu gehen scheint, egal ob Szenerie, Figurencharakterisierung oder Akzentuierung und Kolorierung der Zeichnungen. Zwar störten mich in diesem Band zum allerersten Mal Kleinigkeiten in der Optik, doch insgesamt fallen diese kaum ins Gewicht. Ich hadere schwer mit mir, ob sie überhaupt einen halben Stern Abzug wert sind, wohl eher ein Viertel, deshalb vergebe ich trotzdem wieder die Höchstwertung.


5 Sterne


Hinweise
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Backlist:
Band 1: Marie
Band 2: Serge
Band 3: Die Männer 

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