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Kategorie: 400 – 1100 Frühmittelalter

„Was dachte Gott sich nur dabei, das geschehen zu lassen? War es eine Prüfung? Hatte Gott sich überlegt: Ich schlage dich mit einem Gebrechen, das dich zum Außenseiter macht, und dann schaue ich tatenlos zu, wie die Menschen Schindluder mit dir treiben, um zu sehen, wie fest dein Glaube ist? Waren sie alle, die von der Insel entkommen waren, Hiobs Brüder?“

Er weiß nicht, wer er ist, und so nennen sie ihn Losian. Mit einer Handvoll anderer Jungen und Männer lebt er eingesperrt in einer verfallenen Inselfestung vor der Küste Yorkshires. Als eine Laune der Natur ihnen den Weg in die Freiheit öffnet, wagen sie die Flucht zurück aufs Festland. Ein Abenteuer beginnt und eine Suche – und Losian muss fürchten, dass er den grauenvollen Krieg verschuldet hat, unter dem ganz England leidet …

 

  Autor: Rebecca Gablé
Verlag: Bastei-Luebbe
Erschienen: 17. Oktober 2009
ISBN: 978-3431037913
Seitenzahl: 912 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Rebecca Gablé befand sich auf Kreta und genoss die Aussicht auf das Meer und die Insel Spinalonga, als sie erfuhr, dass sich auf dieser „Leprainsel“ eine Festung befand, in der früher die Leprakranken untergebracht waren und dort bis an ihr Lebensende fristen mussten. Als sie dann über eine kirchliche Lehrmeinung aus dem Mittelalter stolperte, die besagte, dass geistig Behinderte keine Seele hätten und körperlich Behinderte nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen sind und deshalb von der Gemeinschaft abgeschottert werden mussten, war die Idee für das Buch geboren.
Dies erzählt die Autorin in einem Interview, das sich vorne im Buch befindet.


Stil und Sprache
Was genau es ist, dass einen in Rebecca Gablés Büchern in Bann zieht, ist schwer zu fassen und noch schwerer zu beschreiben. Tatsache ist, dass es die Autorin immer wieder schafft, den Leser von Beginn an so zu fesseln, dass einen das Buch einfach nicht mehr loslässt. Dabei hat Gablé keine außergewöhnliche Sprache, aber sie hat die Gabe, äußerst mitreißend und flüssig zu erzählen, so dass man sich schon nach wenigen Seiten in dem Buch „zuhause“ fühlt. Genauso ist es auch bei „Hiobs Brüder“. Schon nach wenigen Seiten kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen, da man unbedingt erfahren möchte, wie es mit Simon, Losian und all den anderen weitergeht.
Die Schauplätze sind sehr bildhaft und plastisch dargestellt, so dass einem alle Orte vor dem geistigen Auge erscheinen und man meint, die Gegend sehr gut zu kennen. Ob die Festung auf der Insel, auf die die „Krüppel“ nach Anweisung des Abts vom Kloster St. Pancras verbannt wurden, ein großes Gut oder eine Burg, die Flüsse und Wälder, die die Geflohenen durchstreifen, bis hin zu gewaltigen Burgen und Schlösser der gekrönten Häupter, alle Handlungsorte sind auf scheinbar nebenbei gezeichneter Ausführlichkeit dargestellt und kommen einem dadurch vertraut vor.
Obwohl die Sprache von Gablé einfach ist, ist sie nicht platt, sondern zieht einen förmlich durch das ganze Geschehen.
Persönlich störend fand ich die explizit und detailliert beschriebenen Sexszenen, die meines Erachtens einfach überflüssig sind und unnötigen Kitsch in das Buch bringen.


Figuren
Die Figuren sind Gablés Achillesferse. Gerechterweise muss ich anmerken, dass nicht mehr alle Figuren so extrem schwarz/weiß gezeichnet sind wie es noch bei „Das Lächeln der Fortuna“ der Fall war. Als ich das Buch zu lesen begann, war ich sehr gespannt, was mich erwarten würde, und wurde äußerst positiv überrascht. Die Figuren waren sehr ungewöhnlich, aber ebenso interessant.
Der Protagonist ist zweifelsohne Losian. Losian hat sein Gedächtnis verloren und wurde schwer verletzt gefunden. Da er sich an nichts mehr erinnern konnte und so auch seinen Namen nicht mehr wusste, wurde er auf die Insel verbannt, wo sich schon andere „Irre“ befanden. Unter ihnen traf er auf viele interessante Menschen wie King Edmund, der sich für einen Heiligen hält, Godric und Wulfric, die siamesischen Zwillinge, Luke, bei dem eine Schlange im Bauch wohnt, Oswald, ein gutmütiger Junge mit Down Syndrom, Simon, der aufgrund seiner Fallsucht von seinem Onkel um sein Erbe betrogen wurde und auch Regy, ein äußerst intelligenter aber gefährlicher Massenmörder.

Eines Tages wird durch einen heftigen Sturm die Festung zerstört und die ungewöhnliche Gruppe kann fliehen. Sie irren durch Wälder und landen unter anderem bei einer jüdischen Familie. Bis dahin ist das Buch einfach hervorragend! Mit der Begegnung der Juden jedoch fällt die Autorin wieder zurück in ihr geliebtes „schwarz/weiß Schema“. Losian, ohnehin schon der tapfere Führer der Gruppe, setzt sich auch für die Juden ein und als er dann sein Gedächtnis wieder findet, wandelt er sich von einer interessanten und vielschichtigen Figur wieder in einen wunderbaren, eindimensionalen Helden. Zwar versucht Gablé ihm durch seine Vergangenheit einen oberflächlichen, arroganten Charakter (der eben auch Fehler hat) zu verleihen, aber durch den Gedächtnisverlust wandelte er sich wieder in den von ihr so bevorzugten Helden ohne Fehl und Tadel. Auch Simon ist ähnlich gezeichnet, wenngleich er immer voll Selbstzweifel ist, da er sich durch die Fallsucht (Epilepsie) nicht als vollwertiger Mann vorkommt. Aber natürlich hilft auch ihm jemand, so dass der enge Vertraute des künftigen Königs sein Glück finden kann. Ziemlich unglaubwürdig erscheint, dass die siamesischen Zwillinge von Henry, Mauds Sohn, so geachtet werden, dass er ihnen einen ranghohen Posten bekleiden lässt.

Die interessanteste Figur ist zweifelsohne Regy. Eigentlich „Reginald de Warenne“, erinnert durch seine Intelligenz, aber auch durch die hinterlistige Bösartigkeit, an Anthony Hopkins alias „Hannibal Lecter“. Dieser Charakter ist hervorragend in Szene gesetzt. Man weiß nie, ob er nun wirklich bösartig ist, nur so tut, ob er durch einen Schicksalsschlag so wurde oder ob er sich nicht vielleicht doch zu einem halbwegs „guten“ Menschen ändert…?
Solche Charaktere bräuchte es wesentlich mehr in Gablés Bücher und das Manko mit den schwarz/weiß gezeichneten Figuren wäre behoben.


Aufmachung des Buches
Das Buch kommt als wunderschönes gebundenes Werk heraus. Der Schutzumschlag ist relativ schlicht, aber doch sehr ansprechend und elegant in Beige- und Brauntönen gehalten. Auf den inneren Umschlagseiten sind Karten des damaligen England zu finden, sodass der Leser die Schauplätze nachverfolgen kann.  Das Buch ist in drei Teile gegliedert; in „Losian“, „Alan“ und „Simon“ und diese wiederum in Kapitel. Ein ausführliches Nachwort rundet die schöne Ausgabe ab.


Fazit
Nicht unschwer wird zu erkennen sein, dass mich das Buch sehr zwiespältig zurück lässt. Einerseits hat Gablé die seltene und hervorragende Gabe, den Leser mit ihren Geschichten so zu fesseln, dass er das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, aber anderseits sind die sehr geradlinigen Figuren immer der Wermutstropfen ihrer Bücher.
Zweifelsohne ein sehr unterhaltsamer Roman mit perfekt recherchierter Historie und einer großen Farbpalette was Leben, Alltag, Politik und das ganze Umfeld der Zeit betrifft. Legt man als Leser nicht so viel Wert auf vielschichtige Figuren und einer literarisch hochwertigen Sprache, bekommt man einen kurzweiligen und interessanten Einblick in die Zeit des 12. Jahrhunderts.


3 5 Sterne


Hinweise
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