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Sie ist es ...", wisperte es.
"Niemals!", widersprach die eindeutig männliche Stimme, die im Widerpart zu der anderen stand.
"Ich weiß es, Theseus. Sie hat das Potenzial."
"Sie ist unwissend und dumm!"
"Theseus, Theseus, du musst noch viel über Frauen lernen!" In der weiblichen Stimme, die sanft, aber bestimmt klang, schwang eine Spur Belustigung mit.
"Du wirst mit ihr deine Zeit verschwenden."
"Keineswegs, Theseus. Sie muss zwar noch viel lernen, aber ..."
"Warum dann noch länger warten?"
Lachen erklang. Stolz und eine Prise herrisch. "Das weißt du. Sie muss den Weg alleine zu uns finden!"


Axana lehnte sich zurück und seufzte. Sie war eine typische Heranwachsende ihres Zeitalters. Technisch begabt und in ewigem Krieg mit den Eltern und der Gesellschaft. Sie beherrschte ihren Computer und die Technik der Hausroboter. Ihre besten Freunde waren Bits und Bytes. Dafür war sie überzeugte Legasthenikerin. Nichts war für sie langweiliger als Online-Bücher. Lustlos holperte sie durch den Text. Ihre Welt bot nicht viel Menschliches. Sie wuchs in kühler, sachlich bestimmter Atmosphäre auf. Ihre Eltern, gut bezahlte Techniker, hatten kaum Zeit für sie. Dass sie in einem Zeitalter lebte, in dem Eltern nur ein Kind erlaubt war, machte ihr Leben auch nicht leichter. Die Bevölkerung war zu Anfang des Jahrtausends explodiert, so dass der Hohe Rat ein Gesetz erlassen hatte, das Ehepaaren nur ein Kind erlaubte.
Axana fühlte sich einsam.
Ihren Freunden ging es ebenso. Sie hätten sich gegenseitig stützen können. Sich die Einsamkeit nehmen. Aber sie waren durch die technisierte Welt gefühlsmäßig blockiert. Doch das kümmerte Axana wenig. Ihre Freunde, soweit sie sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, bedeuteten ihr nicht viel. Was sie weitaus mehr bekümmerte, war die Gleichgültigkeit ihrer Eltern. Um deren Aufmerksamkeit zu wecken, dachte sie sich die tollsten Streiche aus. Sie programmierte die Hausroboter um, schickte Viren in die hoch komplizierte Welt des väterlichen Computers und neigte auch sonst zu renitentem Verhalten.
Ihre Eltern registrierten das kopfschüttelnd und hilflos. Sie wussten nicht, wie sie ihre Tochter bändigen sollten. So beschlossen sie eines Tages, Axana einen Elliot zu schenken. Eines der sprechenden Zwitterwesen zwischen Hund und Fuchs. Haustiere waren eigentlich nicht erlaubt, aber Axanas Eltern hatten eine Sondergenehmigung erhalten.
Axana begrüßte das kauzige Wesen, das sie mit kecken Augen musterte, jubelnd. "Ein Elliot ... wie ich mich freue!", rief sie und fiel ihrem Vater um den Hals. Der schob sie lachend von sich, strich seinen schmucklosen, mausgrauen Anzug zurecht und deutete auf den Elliot, der vor Axanas Füßen hockte und helle winselnde Laute von sich gab. Axana nahm das kleine Bündel, das bald zu einem prächtigen Tier heranwachsen würde, auf den Arm und drückte es an sich.
"Du musst ihm einen Namen geben", wies ihre Mutter sie sanft zurecht. Sie war der perfekte neue Frauentyp: intelligent, aber dennoch angepasst. Was zwar ein Widerspruch in sich war, aber die Genmanipulationen der letzten Jahrzehnte griffen bei ihr. Sie war ein menschlicher Roboter mit Gefühlen. Vielseitig einsetzbar. Von leichter Handhabe. Axana fragte sich mit banger Sorge, ob sie sich, wenn sie das magische Alter von 20 Jahren erreichte, ohne Protest ebenfalls dieser Genbehandlung unterziehen würde. Sie hatte von einem Frauen-Verbund gehört, der sich dem Umwandlungsprozess entzogen hatte. Die Männer nannten sie abwertend Amazonen. Während die Frauen glänzende Augen bekamen, wann immer sie von den unabhängigen Kriegerinnen sprachen.
Axana faszinierten die Erzählungen zwar, aber sie belächelte sie auch. Für sie stand fest: So wie ihre Mutter und deren Freundinnen wollte sie NIE werden. NIEMALS!
"Ich nenne ihn Emek, Mutter", sagte sie mit beinahe feierlichem Ernst.

***

Emek stellte in den folgenden Wochen den gut organisierten Haushalt auf den Kopf. Überall wuselte er herum. Warf Sitzgelegenheiten um, knabberte an Tischbeinen und stahl frech Essen von Axanas Teller. Sie honorierte seine Streiche mit fröhlichem Lachen. Er brachte Liebe in ihr Dasein und das machte ihn für sie unentbehrlich. Doch er vollbrachte noch ein kleines Wunder. Er lockte Axana, die zur Stubenhockerin mutiert war, hinaus in die Welt. Immer wieder forderte er sie zu Streifzügen auf. Seine singend hohe Stimme konnte mitunter recht nervend sein. Bekam er einmal nicht, was er wollte, konnte er so lange quengeln, bis sich Axana die Ohren zuhielt und aufgab.
So auch an einem Sommermorgen. Es waren Regenerationstage. Axana hatte schulfrei.
"Was ist?", fragte Emek herausfordernd. "Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen?"
Axana grinste. Spaziergang war bei Emek immer stark untertrieben. Wenn er einmal draußen war, erwachte sein Jagdinstinkt und dann war er nicht mehr zu halten. Aber an diesem sonnigen Tag schlug auch in ihr das Abenteuerblut. Sie hatte von einem Bunker in den Wäldern gehört. Einem Bunker, der geheime Welten beherbergen sollte.
War darunter auch ihre Welt?
Axana war, seit sie denken konnte, auf der Suche nach der Welt, in die sie wirklich gehörte. Die, in der sie lebte, war es nicht. Dessen war sie sicher. Doch welche war es dann?
"Also gut!", sagte sie, mit der plötzlichen Gewissheit, dass sich an diesem Tag ihr Leben ändern sollte. "Lass uns in den Wald gehen und den Bunker suchen!"
Emek stieß einen hellen, schrillen Pfiff aus. "Waaas willst du suchen? Das Bunker?" Der Elliot hatte noch immer Sprachschwierigkeiten.
"Der Bunker, Emek. Der Bunker." Axana lachte. "Du musst aber gehörig an deiner Sprache arbeiten."
"Das musst du gerade sagen", murrte Emek und deutete auf die Beschriftung einer metallenen Keksdose. "Lies das!"
"S..p..a..c..e ...C...o...ooo.k...i..e...s...", las Axana mit größter Anstrengung.
Emek kugelte sich vor Lachen. "Du lernst es nie!"
"Das brauche ich auch nicht. X-400 liest für mich. Das reicht."
"Denkst du." Emek schüttelte den Kopf. "Ihr Menschen seid schon sonderbar. Setzt euch einen komischen Stahlhelm auf und lasst einen Computer für euch lesen. Dabei ist Lesen etwas ..." Er brach erschrocken ab.
Axana musterte ihn misstrauisch. "Woher weißt du so viel?"
Der Elliot war ihr manchmal nicht ganz geheuer. Emek zog es vor, die Frage zu überhören. Axana hakte nicht nach. Sie wusste, dass er stur sein konnte. So gab sie ihm ein Zeichen. "Los geht’s. Ab in den Wald!"

***

Der Wald empfing sie mit einem geheimnisvollen Rauschen. Axana atmete tief ein. Sie genoss es, durch die Baumreihen zu gehen. Auch wenn sie von ihrem Vater gehört hatte, dass die Nachbildung des Waldes noch nicht abgeschlossen war. Die künstlich geschaffenen Bäume färbten zwar im Herbst ihr Laub, warfen es aber nicht ab und bildeten kein neues. Auch der kautschukartige schwarze Boden lebte nicht. In ihm wimmelte kein Gewürm, kein Käfer bahnte sich seinen Weg. Und Ameisen, die Arbeiter des Waldes, bauten keine Staaten. Alles in allem wirkte der Wald steril. Aber dennoch war er eine Oase inmitten der Einöde, in der Axana lebte. Sie kannte die Bäume der früheren Welt nicht und so empfand sie das merkwürdige Gefühl von Sicherheit in dem beruhigenden Grün dieses Waldes.
Jedes Mal, wenn sie den Wald erreichte, hatte Axana das Gefühl, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten. Die Trennlinie in eine andere Welt. In eine vergessene Welt. Dieses Gefühl war völlig irrational, denn der Wald konnte keine eigenständige Welt sein. Schließlich war er aus dieser Zeit. War in dieser Zeit geschaffen worden.
Emek schnatterte eine Weile wild auf sie ein. Sein unermüdliches Plappermaul stand nicht eine Sekunde still.
"Wo mag dieser Bunker sein?", unterbrach ihn Axana.
"Er soll in der Nähe eines besonderen Baumes sein." Emek war mit einem Mal nicht mehr sehr gesprächig. So wortkarg wurde er immer, wenn er über etwas nachgrübelte. Etwas ausbrütete. Er sah sich suchend um. Dann schnüffelte er aufgeregt mit der Nase in der Luft, senkte sie zu Boden und lief los.
"Wohin so eilig?", rief Axana und folgte ihm. Ihr blieb auch nichts anderes übrig.
"Isch riesche wasch", erklang es undeutlich. Emeks Beine wurden immer schneller. Plötzlich schlug er zackige Haken und stieß spitze aufgeregte Laute aus.
Das Bild des Waldes hatte sich verändert, je tiefer sie hineingingen. Es wurde dunkler. Nur vereinzelte Lichtstrahlen drangen durch die Baumkronen. Zogen mystische Muster auf den Waldboden. Dessen Substanz hatte sich geändert. War nicht mehr kautschukartig, sondern merkwürdig feucht und krümelig. Wurde mit jedem Meter, den sie liefen, dunkler und roch ... ja, wie roch er?
"Erdig!", behauptete Emek.
"Erdig?" Axana konnte mit der Bezeichnung nichts anfangen.
"Das ist Erde. Richtige Erde", jubelte Emek plötzlich und schnoberte hektisch darin herum. "Herrlich ... wie das duftet."
Axana gab ihm Recht. Sah man von dem leichten Modergeruch ab, roch das Bröselzeug unter ihren Füßen schon nach wenigen Schritten nicht mehr fremd, sondern seltsam vertraut. Und ... und lebendig.
Axana konnte nicht widerstehen. Sie kniete nieder und nahm eine Handvoll auf, führte sie an die Nase und schnupperte daran. Es roch gut. Sehr gut.
"Wir sind auf dem richtigen Weg." Emek senkte die Nase wieder zur Erde. Axana folgte ihm weiter. Sie fühlte keine Angst. Auch wenn ihre Eltern sie immer davor gewarnt hatten, in das Herz des Waldes vorzustoßen. Mit der Begründung, Geister und Kobolde würden dort ihr Unwesen treiben.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich auch die Bäume immer weiter verändert hatten. Und als Emek einen schrillen Schrei ausstieß, wusste sie, dass sie den besonderen Baum gefunden hatten.
Er war riesig. Von erhabener Schönheit.
Axana musste sich setzen, so ergriffen war sie. Sein Stamm, von unebener holziger Beschaffenheit, hatte die Farbe geschmolzener Schokolade. Die Arme – stolz in den Himmel gereckt – schmückte Blattwerk von solcher Farbenvielfalt, die Axana nicht zu beschreiben vermochte. Er war ein Wunderwerk. Und als Axana ihn vorsichtig berührte, wusste sie, er war es tatsächlich.
Ein Wunder.
Denn er war ECHT.
Er war keine Nachbildung wie die Peripherie des Waldes. Das gesamte Herz des Waldes und der Wunderbaum waren echt. Axana fragte sich, wozu dann die künstlichen Bäume geschaffen worden waren. Sie stellte die Frage lauter als beabsichtigt.
"Als Schutz", antwortete Emek. Und als Axana ihn fragend anblickte: "Das sind die letzten Bäume der Alten Welt. Sie waren deren höchstes Gut, denn sie reinigten die Luft und gaben den Menschen Sauerstoff." Er seufzte. "Leider waren deine Vorfahren nicht gerade mit Intelligenz gesegnet. Sie zerstörten die Natur und vor allem den Wald. So ist diese Kultur mit ihrer Vegetation und Artenvielfalt untergegangen. Übrig blieb nur das Herz des Waldes."
"War die Alte Welt schön?", wollte Axana wissen. Emek nickte. Axana seufzte. "Schöner als diese sicherlich."
Emek blickte sie erstaunt an. "Bist du denn nicht glücklich? Du hast doch alles."
Axana überlegte einen Moment. "Irgend etwas fehlt ... der Sinn des Lebens. Das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Welt. Ich habe es nicht." Sie atmete tief durch. Richtig! Die Luft war klarer und reiner geworden. Axana konnte den Sauerstoffclip hinter ihrem linken Ohr herabdrehen. Einige Atemzüge wartete sie ängstlich darauf, dass ihr die Luft knapp wurde. Nichts dergleichen geschah.
"Du kannst das Ding da hinter deinem Ohr ganz abschalten", sagte Emek ruhig und grinste dann über Axanas weit aufgerissene Augen.
"Du meinst, ich kann ..."
"Ja, mach schon", fiel ihr Emek ungeduldig ins Wort. Irgend etwas schien ihn zu beunruhigen.
"Was ist mit dir, Emek?" Axana fühlte zwar auch Anspannung in sich, aber der Elliot war nervös. Hypernervös.
"Na, wenn es das Herz des Waldes wirklich gibt, gibt es vielleicht auch ..."
Axana dämmerte es. "Du meinst es gibt sie wirklich?", wisperte sie. Blickte sich um wie ein Kind, das sich im Dunklen fürchtete.
Emek nickte.
Axana richtete sich kerzengerade auf. "Dann lass uns suchen!" Emek nickte erneut. Axana konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er wieder die Nase in die Erde steckte und schnüffelnd weiterlief.

***

Nach Stunden wollten sie aufgeben. Da war nichts als Wald. Nichts war vielleicht untertrieben. Schatten begleiteten sie schon eine Weile. Gebückte gleichermaßen wie hochaufgerichtete. Axana hatten sie zuerst beunruhigt, dann verunsichert und letztlich fühlte sie sich durch sie sicher. Woher dieses Gefühl auch rührte.
"So ein Mist, wir finden ihn nicht", fluchte Emek, als Axana stolperte. So unvermutet, dass sie den Sturz nicht mehr abfangen konnte, sondern der Länge nach hinfiel. Sie rollte einen abschüssigen Weg entlang. Wurde zu ihrem Entsetzen nicht langsamer, sondern schneller und schneller. Und als Emeks lauter Schrei erklang, landete sie unsanft in tiefer Dunkelheit.
Axanas Schmerzensschrei vermischte sich mit Emeks erschrockenem. "Wo bist du?" hörte sie Emeks besorgte Stimme.
"Hier", antwortete sie kläglich. Wo auch immer "hier" war. Sie konnte nicht ausmachen, wo sie sich befand. Konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen, geschweige denn, in welches abgrundtiefe Loch sie gefallen war. Warmes Fell strich über ihr Gesicht. Dann schnüffelte eine feucht-kalte Nase an ihrer.
"Bist du in Ordnung?" Emeks Stimme hallte merkwürdig verzerrt zu ihr herüber.
"Ich glaube nicht."
"Dass Menschen immer so präzise sein müssen.", knurrte Emek. Er entfernte sich von ihr. Scheppern ertönte. Ein zorniges "Autsch", wieder Scheppern, Rascheln, ein Knall, der die Welt zur Erschütterung brachte und dann ein erfreutes "Tatsächlich."
Emek werkelte herum, dann wurde es urplötzlich hell. Licht flackerte grell von der Decke. Axana schloss für einige Sekunden geblendet die Augen, öffnete sie wieder und richtete sie dann fragend auf den Elliot.
"Licht", sagte er fröhlich.
"Das sehe ich. Aber was sind das für komische Röhren, aus denen es kommt?"
"Leuchtröhren.", erwiderte Emek knapp. "Sie wurden erst mit Sonnenenergie gespeist und später haben die Menschen eine andere Möglichkeit gefunden." Er deutete auf eine rechteckige Öffnung in einer Wand. "Komm, lass uns sehen, was sich dahinter verbirgt."

***

Axanas Enttäuschung kannte keine Grenzen. Hätte nicht größer sein können. Sie hatten den Bunker gefunden. Er bestand nur aus einem riesigen Raum. Vollgestellt mit Regalen. Bücherregalen. Axana hatte noch nie ein Buch in der Hand gehalten, aber sie kannte die Abbildungen aus dem Externet.
"Bücher." In ihrer Stimme schwang etwas, als ob sie in einen Raum mit giftigen Mambas getreten sei.
Emek teilte ihre Enttäuschung nicht. "Das ist ja himmlisch", jubelte er. "In all diesen Büchern lebt die Alte Welt. Alles, was du über sie wissen willst, findest du hier!" Er machte mit der Pfote eine einladende Geste und deutete auf die Regale.
Das hörte sich schon interessanter an. Wenngleich es da ein klitzekleines Problem gab: Axana las wie eine Erstklässlerin.
Emek lachte über ihren düsteren Gesichtsausdruck. Er ahnte bereits, was sie bedrückte. "Keine Sorge, ich helfe dir beim Lesen", sagte er und fügte ernst hinzu: "Das hast du nun davon, dass du dich nur für andere Dinge interessiert hast."
Axana hörte nicht zu, schritt bereits mit fiebrigem Eifer durch die Regalreihen. Die Bücher waren allesamt verstaubt. Weiße Schwaden hüllten sie ein. "Spinnweben" hatte Emek sie genannt. Wohl wissend, dass Axana nichts damit anfangen konnte. Es machte ihm Spaß, sie mit ihrer Unwissenheit aufzuziehen. Aber er verband damit auch die Hoffnung, ihren Ehrgeiz zu wecken, mehr über die Alte Welt zu erfahren.
Und seine Taktik ging auf.
Axana zog einzelne Bücher hervor, hustete, als ihr ein Schwall Staub entgegenflog, und reinigte notdürftig die Buchrücken. Die Bücher waren alle nach einem bestimmten Schema sortiert. Axana, die schon immer tierlieb gewesen war, und die mit dem Angebot zu diesem Thema im Externet nicht zufrieden war, klappte das erste Buch auf und betrachtete die bunten Bilder, die im Laufe der Zeit nicht an Farbe eingebüßt hatten.
"Sieh nur", rief sie und deutete auf eine Abbildung. "Das könnte einer deiner Vorfahren sein."
"Das ist ein Hund. Ein wenig seines Blutes fließt tatsächlich in meinen Adern. Aber ich bin heilfroh, dass es nur ein verschwindend geringer Teil ist. Diese bedauernswerten Kreaturen haben sich den Menschen so unterworfen, dass sie nur noch ein Schatten ihrer wilden Genossen waren."
"Aber du lebst doch auch bei uns", hielt ihm Axana entgegen.
"Das ist richtig, aber ich bin trotzdem ein eigenständiges Wesen und kann jederzeit gehen." Er grinste. "Irgendwann werde ich das wohl auch."
"Du willst mich verlassen?", rief Axana erschrocken.
"Keine Sorge. So schnell nicht."
Axana atmete erleichtert auf. Dann öffnete sie das nächste Buch. Sah Pflanzen in wunderschönen Farben und Formen. Und Bäume. Verschieden und einzigartig.


Axana vergaß völlig die Zeit. Eine unbekannte Welt lud sie ein. Eine untergegangene Welt, die es zu ergründen galt. Und sie nahm diese Gelegenheit dankbar an. Vergessen waren der Frust und die Einsamkeit. Emek musterte sie. Das dritte Buch, das sie geöffnet hatte, hielt die nächste Überraschung für sie bereit. Es gab Aufschluss über die verschiedenen Menschenrassen. Axana konnte es kaum fassen, dass es Menschen verschiedener Hautfarben und Kulturen gegeben hatte. In ihrer Welt sahen alle im Erwachsenenalter gleich aus. Jedes Geschlecht konnte vor der Genmanipulation zwischen drei verschiedenen Grundtypen wählen. Das war nicht gerade abwechslungsreich. Aber in diesem Buch waren Menschen mannigfaltigster Rassen und Typen abgebildet. Was Axana am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass sie in die Welt der Bücher eintauchte. Nicht wie eine Unbeteiligte las. Die Bücher übten eine geradezu magische Wirkung auf sie aus. Sie bezogen Axana mit in die Handlung ein. Machten sie zu einer der ihren. Es war für sie wie das Eintauchen in eine andere Welt, die realer als ihre eigene war.
Die Welt zwischen den Zeilen.


Axana wollte schon das nächste Buch ergreifen, als ihr etwas einfiel.
Wovon schwärmten die Frauen immer? Worüber diskutierten sie so eifrig?
"Die Amazonen, Emek. Wo finde ich etwas über die Amazonen?"
Der Elliot lief aufgeregt schnatternd die Regalreihen entlang. "Ich glaube, ich habe hier etwas gefunden."
Axana war blitzschnell an seiner Seite. "Wo denn?"
"Hier! Sieh!" Der Elliot deutete auf eine der oberen Buchreihen.
Axana blickte zweifelnd in die Richtung der ausgestreckten Pfote.
Sie kletterte auf eine Kiste und reichte bis an die oberen Reihen heran. Ein besonders dicker Einband erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ächzend zog sie das Buch aus dem Regal. Dabei verlor sie beinahe die Balance. Fing sich aber noch im letzten Moment.
"Merkwürdig", murmelte sie und setzte sich auf die Kiste. Legte das Buch neben sich. Es war weitaus größer als die anderen. Und es war nicht verstaubt!
"Das ist wirklich komisch. Als ob jemand vor nicht allzu langer Zeit das Buch in Händen gehabt hätte", sagte Emek.
Axana kam eine Idee. Aber sie war zu phantastisch. Zu abwegig, um wahr zu sein.
"Heraus damit. Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass etwas in deinem hübschen Köpfchen herumgeistert", forderte Emek sie auf.
"Lach‘ jetzt nicht aber es sieht so ... sauber aus ... so neu ... als ob es jemand ..."
"Für uns bereitgelegt hätte", beendete Emek. "Aber das ist natürlich Blödsinn." Sein Gesicht verzog sich. "Das Buch kann auch von jemandem gesäubert worden sein, der auf der Suche nach den Amazonen war. Aber das setzt voraus, dass dieser Jemand den Weg hierhin kennt und das ist unmöglich."
"Vielleicht ist es doch möglich. Wir haben den Bunker ja auch gefunden." Axanas Wangen hatten sich vor Aufregung feuerrot verfärbt. Sie fuhr beinahe ehrfürchtig mit der Hand über den goldenen Titel. "Die Welt der Amazonen", murmelte sie und klappte es auf. Dann winkte sie Emek herbei, sie beugten sich über die Seiten und versanken in einer fremden Welt.

***

"Sie kommt näher. Spürst du sie?"
"Natürlich."
"Und sie ist stärker als ich dachte."
"Das bleibt abzuwarten!"
"Du hegst immer noch Zweifel, Theseus?"
"Allerdings."
"Ich werde dich vom Gegenteil überzeugen. Und SIE."
"Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht, meine Liebe."
"Das werde ich nicht. Ganz gewiss nicht."


Sie kämpften sich über felsiges Land. Bemooster und bewaldeter Boden dämpfte ihren Schritt. Blauer Himmel wölbte sich über ihnen. Emek war auf seinen vier Beinen weitaus flinker als Axana. Sie war langes Laufen ohnehin nicht gewöhnt.
"Nicht so schnell", keuchte sie schon nach wenigen Stunden. "Ich komme ja kaum mit." Ihr Herz hämmerte. Nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen. Durst quälte sie zusätzlich.
"Willst du nun Themiskyra, die berühmte Stadt der Amazonen, sehen oder nicht?"
"Natürlich will ich sie sehen, aber wenn du mich so durch die Gegend scheuchst, habe ich nicht mehr die Gelegenheit dazu."
"Wieso?", fragte Emek in Gedanken versunken.
"Weil du mich vorher zu Tode gehetzt hast."
"Du übertreibst. Wie immer."
Axana sparte sich eine Antwort. Ganz Unrecht hatte er nicht. Sie war erschöpft. Und sie schämte sich fast, so verweichlicht zu sein.
Die Landschaft wurde bewaldeter.
Erhielt dadurch einen freundlicheren Charakter.
Axana atmete die sauerstoffhaltige Luft gierig ein. Dass sie so rein, so klar sein konnte, hätte sie nicht in ihren kühnsten Träumen gedacht. Seit einiger Zeit begleitete sie ein Singen in der Luft. Ein Plätschern und Zischen. Kleine Wasserpartikelchen schwebten darin.
"Kapru Kale muss ganz in der Nähe sein", schrie Emek plötzlich aufgeregt. Und bevor Axana fragen konnte, was um alles in der Welt Kapru Kale war, sprach der Elliot weiter. "Das sind die Ruinen einer alten Festung."
"Einer alten Festung? Wie spannend", rief Axana aufgeregt. Sie ließ sich auf einer Baumwurzel nieder. "Erzähl mir mehr davon!", bat sie.
Und als er zu sprechen begann, hörte sie das erste Mal in ihrem Leben wirklich zu. Nachdem er endete, wuchs sie über sich hinaus. Denn als sie weitergingen, kam kein Laut mehr über ihre Lippen. Keine Klage.
Zu groß war ihr Wunsch, endlich den Amazonen zu begegnen. Jenen Frauen, um die so viele Legenden rankten. Ihr wurde bewusst, dass daraus die Möglichkeit erwuchs, gleichermaßen in die Vergangenheit und Zukunft zu blicken. Ein Teil beider Welten zu werden.
So folgte sie Emek. Kletterte mit ihm über die unwegsamen Felsen, die sich plötzlich vor ihnen erhoben. Oftmals zwängten sie sich durch enge Schluchten. Dachten schon, dass es kein Fortkommen gab. Doch sie schafften es. Standen endlich in einem Tal. Und als sie die ersten freilaufenden Pferde sahen, wussten sie: Die Amazonen konnten nicht weit sein.
Axana hatte ihre Finger so tief in Emeks Fell vergraben, dass dieser schrill aufschrie, als die ersten Amazonen auf sie zugaloppierten. Dann wiederum schrie sie, als sie zwei Kriegerinnen packten und hochhoben. Sie so in der Mitte ihrer beiden Pferde im halsbrecherischen Galopp davontrugen. Axana hatte nicht einmal mehr Zeit, einen erneuten Schrei auszustoßen. Sie sah nur noch, wie Emek ebenfalls ergriffen und über einen Pferderücken geworfen wurde.
Angst stieg in Axana auf. Würde man sie gefangen nehmen? War ihr Leben verwirkt?
Weit gefehlt!
Die Kriegerinnen setzten sie verhältnismäßig sanft vor einem schlossartigen Gebäude ab. Zwei hochgewachsene, in Lederkleidung gehüllte Frauen führten sie fort. In einen Saal, in dem ein thronähnlicher Stuhl stand. Darauf saß eine schöne und durchtrainierte Frau.
"Ich bin Antiope, die Amazonenkönigin. Und wer bist du, mein Kind?", fragte sie freundlich, aber dennoch bestimmt.
"Ich heiße Axana ", krächzte diese.
"Und woher kommst du?"
Wie sollte Axana das erklären?
Eine heisere Fistelstimme erklang. "Wir kommen aus einer anderen Welt."
Emek!
Axana fuhr erfreut herum und begrüßte das kauzíge Tierchen.
"Soso. Aus einer anderen Welt." Antiope schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein "Und was wollt ihr hier?"
Axana wusste nicht, woher sie den Mut nahm, aber sie trat einige Schritte vor. "Meine Mutter und die anderen Frauen haben so viel von euch erzählt. Wie frei ihr lebt. Ich wollte immer so sein wie ihr. Wollte nicht durch die Genmanipulation zu einem Maschinen-Menschen werden. So wie die anderen Frauen."
Antiope lächelte zufrieden. "Das höre ich gerne. Wir können viel voneinander lernen." Sie beugte sich vor und gab den beiden Frauen, die Axana hereingeführt hatten, ein Zeichen. Dann drehte sie sich wieder zu Axana herum. "Sei unser Gast!"

***

Axana fragte sich, was Antiope und ihr Volk von ihr lernen wollten. Sie wiederum lernte viel über die Amazonen. Es übertraf alles, was sie bisher über sie gehört hatte. Dieses Volk war tapfer und kühn. Die würdevollen Kriegerinnen verhielten sich niemals grausam, hinterlistig oder feige. Und sie ließen sich gegenseitig nicht im Stich. Unter Einsatz ihres Lebens bargen sie oftmals verletzte Kameradinnen. Bildeten ein Volk von kriegerischen Frauen, die ihre eigene Kultur und Geschichte aufgebaut haben. Im Umgang mit Waffen standen sie Männern in nichts nach. Stolz und wild lebten sie nach einem strengen Kodex. Angeführt von ihrer Königin. Neben der gab es die Hohepriesterin und die Schamanin. Beide weise Frauen standen der Königin als Beraterinnen zur Seite. Während sich die Priesterin mehr auf Gebete und Rituale verstand, konnte man die Schamanin mit einem Druiden vergleichen.
Ein Mädchen, das in einer Amazonenwelt aufwuchs, wurde vor allem im Umgang mit Waffen geschult. Bis die Ältesten glaubten, dass sie die Reife erlangt hatte. Erst dann wurde ihr die Amazonenmaske übergeben, die alle trugen.
Axana bestaunte besonders die Reitkunst dieser beeindruckenden Frauen. Bewaffnet mit Speer und Schild hielten sie sich erstaunlich sicher auf den edlen Pferden. Wie gerne wäre auch Axana mit ihnen davongaloppiert. Doch noch mehr faszinierten sie die geschickten Bogenschützinnen. Diese Kunst des Jagens und der Verteidigung hätte sie liebend gerne erlernt. Das sprach sie auch aus. Die Amazonen hatten sie schnell gelehrt, immer offen zu sagen, was ihr in den Sinn kam. So äußerte sie den Wunsch, die Kunst des Bogenschießens zu erlernen.
Antiope stieß ein warmes Lachen aus. "Diese Kunst ist nicht so schnell zu erlernen, mein Kind. Aber du kannst es dennoch versuchen."
Man reichte Axana ein gemustertes Gewand mit einem breiten Gürtel. Optisch sah sie damit wie eine blutjunge Amazone aus. Aber das war auch die einzige Gemeinsamkeit. Ihr erster Versuch, auch nur annähernd so elegant den Bogen zu spannen, schlug natürlich fehl. Wie alle weiteren. Aber Axana gab nicht so schnell auf.
Das gefiel Antiope. Und nicht nur das. Das Mädchen hatte Potenzial. Vielleicht war sie der Mensch aus der Neuen Welt, mit dem sich ein künftiges Reich aufbauen ließ. Eine Welt mit alten und neuen Werten. Dass Axana in ihrem Alter schon wusste, dass sie sich nicht der Genmanipulation unterziehen wollte, imponierte der Amazonenkönigin.
Antiope hatte die Menschen der Neuen Welt schon lange mit Sorge beobachtet. Sie waren kalt und unpersönlich. Es fehlte ihnen an Kultur und einem wesentlichen Bestandteil: der Liebe zueinander und zur Literatur. Antiope seufzte. Zu lange wartete sie schon darauf, diese Welt zu ändern. Es gab die Sage, dass ein Mädchen milden Atems kommen werde. Ein Mädchen aus der Neuzeit, das die Zukunft bestimmen werde.
Somit auch die Zukunft der Amazonen.
Antiope stellte sich die Frage, ob Axana dieses Mädchen war. Sie hatte sie erfreut darauf angesprochen, dass sie wohl die einzige Jugendliche ihrer Zeit war, die lese. Was im Zeitalter der Technologie schon mehr als erstaunlich war.
Als Axana beschämt eingestand, dass sie, bevor sie den Bunker entdeckt hatte, so gut wie nie gelesen habe, hatte Antiope weise gelächelt und erwidert: "Aber letztendlich hast du es doch. Und nur das zählt."
"Woher weißt du das?", wollte Axana erstaunt wissen.
Die Amazonenkönigin hatte sie weise angelächelt. "Sonst wärest du nicht hier."
Das hatte eine gewisse Logik. Und Axana gestand sich ein, dass sie glücklich darüber war, das Buch gelesen zu haben, das sie in diese Welt geführt hatte. Aber auch die anderen Werke hatten sie wie noch nichts bisher gefesselt. Doch das Buch über die Amazonen bildete eine Ausnahme. Sie hatte eine besondere Schwingung in sich gespürt, als sie über den Einband und die leicht vergilbten Blätter strich. Es war ihr, als berühre sie einen alten Freund.
Emek, darauf ausgesprochen, drückte aus, was Axana tief in ihrem Inneren fühlte. Lesen sei Heimat finden in aufgeschrieben Gedanken. Sie hatte es nicht gänzlich verstanden. Aber sie glaubte allmählich zu ahnen, was es bedeutete.
"Du kannst nicht länger bleiben", sagte Antiope plötzlich leise.
Axana zuckte zusammen. "Ich will nicht zurück. In meiner Welt fühle ich mich so allein ... so verloren ..."
"Ich weiß, mein Kind. Doch die Zeit ist noch nicht reif. Kurz bevor du das zwanzigste Lebensjahr erreichst, wird dich die Weisheit des Bunkers wieder zu uns führen." Sie strich Axana über die Wange. "Ich warte auf dich."

***

Die Amazonen brachten Axana und Emek zurück. Nicht nur dorthin, wo sie sie aufgelesen hatten, sondern – und das erstaunte Axana längst nicht mehr – zurück in den Bunker.
Sie fühlte keine Freude in sich, ihre Eltern und Freunde wiederzusehen. Noch weniger die Eintönigkeit ihrer Welt. Doch sie lächelte. Schien verändert. In sich gekehrt und ruhig. Denn nun hatte sie eine Zufluchtstätte. Der Bunker hielt noch so viele Bücher – ihre Welt – für sie bereit.
Axana meinte, Antiopes zufriedenes Lachen zu hören. Ihre Stimme, die ihr zuflüsterte. "Und wenn du alle Bücher gelesen hast, wird es an der Zeit sein."
Axana lächelte glücklich.
Sie wusste nun, wo ihre Welt war. Die Welt, in der sie leben und deren Zukunft sie mitbestimmen wollte.


"Du hast Recht. Sie hat das Potenzial. Aber sie muss noch viel lernen!"
"Das ist wahr, Theseus." Lachen erklang. Weich und dennoch herrisch. "Besonders den Umgang mit Männern. Sie muss lernen, eine selbständige Frau zu sein. Die anzuführen, die lange um ihre Rechte gekämpft haben. Ihren Stolz und ihre Selbständigkeit mit ihnen leben."
"Besonders aber ihren Umgang mit Männern, sagtest du!", erklang es spöttisch.
"Theseus, Theseus! Fühlst du dich persönlich angesprochen? Du weißt, wir sind nicht alle so. Aber für die meisten meiner Schwestern sind Männer nun einmal nur für die Zeugung der Nachkommenschaft da."
"Das ist mir bekannt. Leider, muss ich hinzufügen. So wie sie ihre neugeborenen Knaben fortschicken, töten oder verstümmeln."
"Alles nur Sagen, Theseus. Alles nur Sagen. Genauso unwahr, wie die Behauptung wir würden uns die rechte Brust abschneiden, um beim Bogenschießen nicht behindert zu werden."
"Wird sie den Platz der Hohepriesterin einnehmen?", schweifte die männliche Stimme wieder ab. Lenkte das Gespräch wieder auf die Kernfrage.
"Das wird sie, Theseus. Wenn die Welt sie wieder zurück zu uns führt."


Anmerkungen:
09. Dez. 2006
bereits veröffentlicht im Buch "Wellensang" 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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