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Irmgard Kramer


Im Juli 2015 erscheint Irmgard Kramers Buch "Am Ende der Welt traf ich Noah" im Loewe-Verlag. Ein außergewöhnliches, ein besonderes Buch. Der Leser-Welt beantwortet die Autorin einige Fragen zur Entstehung der Geschichte, ihrem Werdegang als Autorin und dem Schreibprozess im Allgemeinen.


Hallo Frau Kramer. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Interview nehmen! Sie schreiben Geschichten über lebendige Häuser, beherbergen in Ihrem Garten unfreiwillig fünf wilde Katzen und haben einen Apfelbaum mit Namen Jakob Fischer. Was sollten wir noch über Sie wissen?

Vielleicht, dass mich im Augenblick die unmenschliche Asylpolitik in vielen Ländern Europas sehr beschäftigt. Jeden Tag besuche ich fünf Männer aus dem Irak. Ich versuche, ihnen Buchstaben und Sätze beizubringen und darf ein paar Brocken arabisch lernen. Wir sind nach kurzer Zeit Freunde geworden und müssen viel lachen. (Hassan wollte Kakao kaufen, aber weil er die Buchstaben nicht kannte, brachte er eine Schachtel Grillanzünder mit). Wovor fürchten sich die Menschen eigentlich? Ich freue mich, dass die Welt zu mir nach Hause kommt und plötzlich bunt wird.   


Sie haben schon immer viel geschrieben - von Abenteuerromanen über Tagebuch bis hin zu Hausaufgabentexten und Sachaufgaben für Ihre Schüler. Doch erst 2004 entflammte das dringende Bedürfnis, einen Roman zu Papier zu bringen. Wie ist es dazu gekommen?

Im Februar 2004 wurde ich zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert. Die Angst um einen lieben Angehörigen hat in mir den dringenden Wunsch geweckt, einen Roman zu schreiben. Meine Freundin, die Psychologin ist, hat mir das später so erklärt: Ich habe damals erfahren, wie schnell das Leben zu Ende sein kann. Es macht keinen Sinn mit der Umsetzung seiner Träume zu warten bis es zu spät ist, nur weil man Angst davor hat, sich mit anderen messen zu müssen oder zu versagen.


Viele Jahre lang haben Sie darauf gehofft, einmal ein Buch von sich in Händen zu halten. Was war das für ein Gefühl, als dieser Traum endlich Wirklichkeit geworden ist?

Dieses Gefühl überwältigt mich immer noch täglich. Ich hatte sehr viel Glück. Aber nicht nur. Ich war hartnäckig und habe durchgehalten. Zehn Jahre lange habe ich für den Mülleimer geschrieben und eine Absage nach der anderen bekommen. Kein schönes Gefühl. Aber ich wollte es unbedingt. Und irgendwann öffneten sich die Türen.


Durch Zufall ergab es sich, dass Sie durch Auftragsarbeiten mit Schreiben plötzlich Ihren Lebensunterhalt sicherstellen konnten und haben kurzerhand Ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel gehängt. Hat Ihnen dieser Schritt keine Angst gemacht? Oder war es eher wie bei Ihrer Figur Noah, dass Sie endlich frei sein und das tun wollten, was Ihnen am Herzen liegt?

Sie haben das gut erkannt – ich bin unheimlich freiheitsliebend. Nie wieder will ich in einem Hamsterrad wie der Schule gefangen sein. Aber ich habe meinen Beruf nicht „kurzerhand“ an den Nagel gehängt. Das war ein langjähriger, und auch ein schmerzhafter Prozess, weil ich mich stark über meine Arbeit definiert habe. Ich war Lehrerin mit Leib und Seele und hätte mir in meinen besten Zeiten nie etwas anderes gewünscht. Aber irgendwann ging mir die Luft aus. Ich war ausgebrannt, weil ich ständig gegen ein System angekämpft habe, in dem es am Ende nur um Leistung und Noten geht. Wie schön wäre es doch, wenn sich die Kinder einfach ausprobieren dürften. Nach einem Sabbatjahr habe ich gekündigt und musste mich neu erfinden, etwas, mit dem auch meine Freunde und meine Familie nicht gut umgehen konnten. Sie konnten sich nicht mehr vorstellen, was ich den lieben langen Tag mache und anfangs hatte ich stets das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, dass ich schreibe. Ein paar Veröffentlichungen erleichtern die Sache – inzwischen fragt mich, außer meiner Mutter, keiner mehr.


Da ich eine der Hauptfiguren Ihres neuen Buches bereits erwähnt habe, kommen wir doch direkt auf "Am Ende der Welt traf ich Noah" zu sprechen. Ich finde es gar nicht so leicht, diese außergewöhnliche Geschichte in Worte zu fassen. Können Sie unseren Lesern kurz erzählen, worum es geht?

Marlene findet an einem verlassenen Bahnhof einen roten Koffer, gibt sich als dessen Besitzerin aus und fährt unter falscher Identität mit einem wildfremden Mann in eine abgelegene alte Villa. Dort lebt ein blinder Junge namens Noah, gemeinsam mit einer Nonne, einem Koch und dem Chauffeur. Noch nie hat Noah die Villa verlassen. Er behauptet, in der Villa gefangen zu sein und fleht Marlene an, ihm bei der Flucht zu helfen. Marlene zweifelt. An sich selbst. An Noah. Auf ihrer langen Reise gelingt es Marlene schließlich herauszufinden, wer Noah und wer sie selbst ist.


War der Aufbau der Geschichte von vornherein so geplant? Immerhin nimmt diese am Ende eine überaus unerwartete Wendung und lässt alles bis dahin Geschehene in einem anderen Licht erscheinen ...

Ich danke Ihnen, dass Sie das Ende nicht verraten haben. [lächelt] Es gibt unzählige Fassungen dieses Romans, aber erst als die Idee zu diesem unerwarteten Ende geboren war, fing ich an, den ganzen Roman noch einmal neu zu schreiben. Ich habe sehr viel recherchiert. Das merkt man nicht, aber für mich war es sehr wichtig, dass jedes Detail die richtige Bedeutung bekommt.


Noah und Marlene, die beiden Hauptfiguren in diesem Buch, sind unglaublich lebendig ausgearbeitet. Wie gelingt es Ihnen, Ihre Figuren so authentisch, mit so viel Liebe zum Detail aufs Papier zu bringen?

Ganz ehrlich? Ich hatte so unfassbar viel Arbeit mit dem Plot, der auf mehreren Ebenen funktionieren muss, dass ich keine übrige „Gehirnkapazität“ für die Hauptfiguren aufbringen konnte. Die waren einfach da.


Fiel der Abschied - nachdem Sie so viel Zeit mit ihnen verbracht haben - von Noah und Marlene schwer, als Sie den letzten Satz geschrieben hatten?

Oh ja. Kennen Sie das Gefühl, wenn ein Buch viel zu schnell zu Ende ist? Wenn man die letzte Seite umblättert und wütend ist, weil da nur noch Danksagungen stehen? Mit dieser Geschichte ging mir das auch so. Ich fand und fand beim besten Willen kein Ende und schrieb unzählige „Danach-Szenen“, als Epilog, als „Ein Jahr später“. Noch ein Schluss und noch ein Schluss. Wir haben das dann aber alles gestrichen, all die Szenen, in denen Noah und Marlene glücklich übers Mittelmeer in den Sonnenuntergang segeln, bevor sie heiraten und Kinder kriegen. Das wäre furchtbar kitschig geworden. Ich hoffe trotzdem, dass sich jede Leserin und jeder Leser in seiner Fantasie ausmalen kann, wie die beiden ihr Leben nach der letzten Seite meistern.


Apropos viel Zeit: Noahs Geschichte entstand über zwei Jahre hinweg und wurde von über 40 Verlagen abgelehnt, bis sie nun endlich im Loewe-Verlag veröffentlicht wurde. Statt aufzugeben, haben Sie sich in das Schreibhandwerk reingekniet. Gelesen, gelernt, geübt. Woher haben Sie diese Motivation, dieses Durchhaltevermögen genommen?

Ich begann mit Noahs Geschichte im Februar 2004. Jetzt, im Juli 2015, erblickt sie das Licht der Welt. Schon verrückt. Viel kann ich da nicht dafür. Meine Hartnäckigkeit wurde mir (gemeinsam mit zu großen Füßen) in die Wiege gelegt. Schon meine Mutter hatte Mühe mit mir, weil mein Lieblingssatz war: „Ich will aber!“ Meistens habe ich bekommen, was ich wollte. (Abgesehen davon war ich natürlich ein wahnsinnig braves Kind – ich habe vor allem geschlafen, etwas, das ich heute noch leidenschaftlich gern mache.)


Kommen wir doch noch ein wenig auf das Schreiben an sich zu sprechen. Zunächst: Was fasziniert Sie daran, Geschichten zu Papier zu bringen?

Die Flucht in fremde Welten? Aus meinem Alltag auszusteigen und Dinge geschehen zu lassen, die es in der Realität nicht gibt? Ich mag es, wenn Außergewöhnliches in den Alltag eindringt. (Genauso, wie ich es mag, wenn plötzlich Menschen aus Syrien und dem Irak in meinem Bregenzerwälder Dorf auftauchen und sich wundern, dass hier keine Granatäpfel wachsen). Das ist spannend. Würde ich in einer Krisenregion und nicht so behütet in Frieden leben, wäre das wahrscheinlich anders. Vielleicht würde ich dann Mantras schreiben.


Haben Sie bestimmte Rituale, die Sie beim Schreiben einhalten, beispielsweise eine feste Schreibzeit oder eine festgelegte Seitenzahl pro Tag?

So wie ich früher zur Schule gegangen bin, stehe ich spätestens um acht an meinem Schreibpult, schreibe bis zum Mittag, koche was, hänge kurz durch, trinke einen Kaffee, esse ein Stück Schokolade und schreibe weiter. Das ist es, was ich tun möchte. Und wenn mir der Kopf platzt, gehe ich auf den Berg.


Planen Sie Ihre Romane erst bis ins kleinste Detail, bevor Sie mit dem Schreiben beginnen, oder schreiben Sie einfach drauflos?

Es ist ein permanenter Wechsel aus beidem. Ich brauche einen ungefähren Plan, aber dann kommt der Punkt, wo ich drauflos schreiben muss, um mich den Figuren und den Schauplätzen zu nähern. Dann plane ich neu und viel Geschriebenes fliegt wieder raus. Ich glaube, es gibt Autoren, die das viel effizienter und besser können als ich und ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich jetzt eine Agentin und eine Lektorin an meiner Seite habe, die mich vor meinem endlosen Schreibrausch retten und mich zurück auf die richtige Bahn lotsen. Ich verzettle mich oft heillos, weil ich viel zu viele Ideen unterbringen möchte. Das ist wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht: Zurück an den Start! Aber irgendwann wird es dann doch fertig.


Arbeiten Sie bereits an Ihrem nächsten Roman?

Ich habe in diesem Jahr noch etliche Verträge zu erfüllen, was mir aber keine Sorgen bereitet. Einen Plan für einen neuen Jugendroman habe ich schon ziemlich genau im Kopf (und auch auf meiner Festplatte) und ich kann es kaum erwarten, damit loslegen zu können. (Weil, wenn das wieder so lange dauert wie mit Noah, erscheint es dann 2026.) Eins nach dem anderen. In den nächsten Wochen schreibe ich den vierten Teil der Kinderbuchserie „Sunny Valentine“. Das habe ich genau geplant.


Und nun noch eine abschließende Frage an Sie als Leserin: Welches Buch liegt derzeit auf Ihrem Nachttisch?

Auf meinem Nachttisch türmt sich immer ein elend hoher Stapel. Ich lese alles kreuz und quer, je nach Stimmung. Immer parat liegt „Der Distelfink“ von Donna Tartt – das habe ich schon mehrmals gelesen. Gestern zugeschlagen habe ich „Das grüne Rollo“ von Heinrich Steinfest (von ihm lese ich so ziemlich alles, was erscheint), darunter liegt „Die Magie der kleinen Dinge“ von Jessie Burton, das gefiel mir sehr gut, darunter liegt „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig – grandios wie immer, aber ich muss es in kleinen Häppchen lesen (Stefan Zweig nimmt mich immer wahnsinnig mit). Darunter liegt „Straight White Male“ – ich bin ein großer Fan von John Niven - sehr derb, sehr politisch unkorrekt, aber fantastisch geschrieben und herrlich unterhaltsam. Darunter liegt die „Ur-Pippi“ von Lindgren (das habe ich kürzlich wieder ausgegraben, weil ich in einer Schule bei einem Astrid-Lindgren-Tag einen Workshop gemacht habe). Und zur Gewissensberuhigung liegt ganz unten stets ein Klassiker, den ich mit viel Mühe versuche zu lesen. Zurzeit ist das „Leviathan“ von Julien Green. Ich würde gerne zu den Menschen gehören, die all die große Literatur bereits gelesen haben, leider bin ich oft zu faul, mich abends noch anzustrengen. Übrigens habe ich immer auch ein oder mehrere Hörbücher in meinem Handy – beim Bügeln, beim Kochen, beim Wandern, beim Autofahren. Ohne Geschichten geht’s irgendwie nicht.  


Ich danke Ihnen für das Interview.

Ich danke Ihnen für die interessanten Fragen und die genaue Recherche.

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