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Zwei Menschen, die miteinander alt geworden sind, beschließen, sich das Leben zu nehmen. Er ist schwer krank, sie will nicht ohne ihn sein. An einem Sonntag im Herbst 1991 setzen sie ihren Plan in die Tat um. Sie bringen den Hund weg, räumen die Wohnung auf, machen die Rosen winterfest, dann sind sie bereit. Hand in Hand gehen Vera und István in den Tod, es ist das konsequente Ende einer Liebe, die die ganze übrige Welt ausschloss, sogar die eigenen Kinder.

Diskret und liebevoll rekonstruiert Johanna Adorján den Tag des Selbstmordes ihrer Großeltern, die alles andere waren als ein gewöhnliches Paar. Sie siezten sich ihr ganzes Leben, rauchten Kette und sahen umwerfend aus. Und sie hatten eine Vergangenheit, über die sie nicht sprachen. Weil sie sich nicht daran erinnern wollten. Als ungarische Juden hatten sie den Holocaust überlebt, waren Kommunisten geworden und 1956 während des Budapester Aufstands außer Landes geflohen. In Dänemark fingen sie ein neues Leben an und blickten - scheinbar - nie mehr zurück.

Sechzehn Jahre nach dem Tod ihrer Großeltern hat sich Johanna Adorján über das Gebot ihrer Familie hinweggesetzt: "Davon sprechen wir nicht". Sie hat sich auf die Suche nach den blinden Flecken im Leben ihrer Großeltern gemacht und dabei Dinge herausgefunden, die mehr mit ihr selbst zu tun haben, als sie geahnt hatte. Vor den Abgründen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sie Vera und István wieder auferstehen: ein faszinierendes Paar, verschroben, elegant, unbequem, exentrisch. Es ist die traurige und schöne Geschichte einer großen Liebe, zugleich die Suche nach der eigenen Geschichte, und dass Johanna Adorján dafür einen leichten, bisweilen sogar komischen Ton gefunden hat, ist ihre große Kunst.

 

  Autor: Johanna Adorján
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Erschienen: 2009
ISBN: 978-3-630-87291-9
Seitenzahl: 185 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Das Schicksal dieser beiden exentrischen Menschen, Vera und István, gipfelt vor den Augen des Lesers in einem Selbstmord, der von den beiden ungarischen Juden scheinbar nie in Frage gestellt wurde und überdies die einzige Möglichkeit für beide darstellte, mit dem körperlichen Verfall Istváns umzugehen. Genau beschreibt die Autorin diesen letzten Tag ihrer Großeltern, beschreibt die Gespräche, die sie selbst mit Zeitzeugen geführt hat, erzählt von dem Leben dieser beiden Mensch, um nach jedem Exkurs wieder zur Rahmenhandlung zurückzukehren, den akribischen Vorbereitungen der Großmutter vor dem Tod. Bis schließlich Vera und István Hand in Hand einschlafen, um nie wieder aufzuwachen.

Die wahre Geschichte ihrer Großeltern schildert die Autorin in diesem hervorragenden Prosastück. Es fällt schwer, dieses Buch einem Genre zuzuordnen, "Sachbuchroman" wurde bei rbb vorgeschlagen, Biographie, Erzählung, Roman - irgendwie ist es von allem etwas.


Stil und Sprache
Ihr eigentlich journalistischer Beruf ist Johanna Adorjáns Romandebüt anzumerken. Mit aufwendiger Recherche widmet sich die Journalistin der FAZ Sonntagszeitung dem letzten Tag im Leben ihrer Großeltern. Der Ablauf dieses letzten Tages, die Gefühle ihrer Großeltern und ihre Vorkehrungen für die Zukunft werden von Johanna Adorján minutiös rekonstruiert. Dabei bleibt ihre Sprache nüchtern und distanziert, ganz in dem Stil, der wohl auch ihren vornehmen Großeltern gefallen hätte. Gerade wegen dieser kühlen Sprache, die sich in diesem Buch nicht in den Vordergrund drängt, ist dieses Buch sehr bewegend.
Diese seriöse Distanziertheit führt dazu, dass das Buch nicht in die Kitschschublade gesteckt werden kann. Dass sich der Leser ganz auf diesen letzten Tag konzentrieren kann. Eine überzeugende Darstellung, die ich in dieser Weise und anbetracht des Themas vorher nicht für möglich gehalten hätte.


Figuren
Auch den Charakteren ihrer Großeltern widmet sich die Autorin so genau wie möglich. Während der Recherchen merkt Adorján, dass niemand die Großmutter so richtig kannte und entdeckt darüber hinaus Parallelen dieser eigenartigen Frau zu ihren eigenen Empfindungen. 

Die Autorin versucht das Leben und Sterben ihrer Vorfahren so wirklichkeitsgetreu wie möglich zu schildern und ihre Motive und Gefühle schonungslos anzugehen. So wird diesem Selbstmord weder der Egoismus der Großeltern abgesprochen, der zweifellos in ihm deutlich wird, noch wird das Motiv von Vera verschleiert oder beschönigt. Vera entscheidet, dass ihre Kinder nun ohne sie zurechtzukommen haben, dass man von ihr nicht verlangen könne, allein zu leben. Ihr eigentliches Motiv, dem Leben ein Ende zu setzen, ist: Sie hat schlicht Angst vor der Einsamkeit. Die Autorin schafft es, die Vielfältigkeit und Originalität ihrer Großeltern zu erfassen, ohne diesen Personen zu nahe zu treten.
Auf eindringliche Weise zeigt Johanna Adorján, wie es sich mit der Liebe verhält, wenn man schon ein ganzes Leben zusammen verbracht hat. Vera reagiert oft gereizt, weil ihr Mann nicht mehr gut hört, er nicht mehr so kann, wie er gerne würde. Dennoch gibt ihr die Liebe die Kraft, um mit ihm zu gehen und auf die weiteren Jahre zu verzichten.

Sich als Angehöriger mit diesem Selbstmord zu befassen ist mutig, es auf die Art und Weise zu tun, wie Johanna Adorján es getan hat, ist bewundernswert.


Aufmachung des Buches
Das Cover der gebunden Ausgabe strahlt in weiß, in roten einfachen Buchstaben sind der Name der Autorin und der Titel aufgedruckt. Einzig das Wort "Liebe" verziert in verschnörkelter Schrift den Einband. Auf der Rückseite befindet sich eine kurze Einführung in das Buch von Johanna Adorján, der Buchautorin.

Diese einfache, gediegene Aufmachung gefällt und hebt das Thema dieses Buches hervor. In der Aufmachung des Buches findet sich dieselbe nüchterne Eleganz wieder, die dem ganzen Buch eigen ist.


Fazit

Die Auseinandersetzung Johanna Adorjáns mit ihrer eigenen Geschichte und dem Freitod ihrer Großeltern ist bemerkenswert. Ihre ganz eigene Art des Erzählens ist erfrischend anders, überrascht den Leser, erwartet man doch von einem "Liebesroman" etwas anderes. Nebenbei erhält man einen Einblick in das Schicksal vieler europäischer Juden, die gezwungen wurden, mit ihren Holocaust-Erlebnissen, Flucht und Imigration zu leben.

Ein großartiges Buch, das auf ganz leise Weise nachdenklich und sprachlos macht. Fünf Sterne für diesen ungewöhnlichen "Liebesroman".


5 Sterne


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