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Düsseldorf/Kaiserswerth im Jahre 1822. Johanne hat nur einen großen Wunsch: Sie möchte der Armut entkommen und ihr trostloses Elternhaus verlassen. Doch der protestantische Pfarrer Theodor Fliedner erkennt ihre Klugheit und Reife. Er ermutigt sie, ihm in seiner Gemeinde zu helfen. Dabei ist schnell offensichtlich, dass Johanne die ideale Gattin für den ehrgeizigen Pastor wäre. Sie aber lehnt eine Ehe ab und wählt die Freiheit. Fliedner und Johanne bleiben enge Vertraute, verbunden durch ihren Glauben und die Vorbereitungen zur Gründung des ersten Diakonissenhauses in Kaiserswerth.
Johannes Hoffnung, ihre jüngere Schwester Catharine würde sich ebenso stark in der Kirche wiederfinden wie sie selbst, wird enttäuscht. Catharine geht ihren eigenen Weg und stürzt sich mit ihrem Geliebten 1848 in die Revolution. Zwischen den Schwestern entbrennt ein heftiger Kampf um die persönlichen Überzeugungen.

 

Die Protestantin  

Autor: Gina Mayer
Verlag: Edition Oberkassel
Erschienen: 12. Juni 2014
ISBN: 978-3943121490
Seitenzahl: 492 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Das Rheinland Anfang des 19. Jahrhunderts. Die wirtschaftliche Entwicklung ist im Umbruch, Arbeitslosigkeit und wachsende Armut der Bevölkerung ist die Folge. Auch die Familie der 17jährigen Johanne bekommt das zu spüren. Vater und Bruder verlieren ihre Stelle, der eine wendet sich dem Alkohol, der andere - aus der Not heraus - dem Schmuggel zu. Er wird erwischt und muss ins Gefängnis. Johanne sehnt sich danach, dem Elend zu entkommen. In dieser Situation übernimmt der neue protestantische Pfarrer Theodor Fliedner die Gemeinde in Kaiserswerth. Johanne bewundert seinen unermüdlichen Einsatz für seine Pfarrkinder und findet selber in der Kirche eine befriedigende Aufgabe. Als Fliedner ihr einen Antrag macht, muss sie jedoch erkennen, dass sie nicht bereit ist, für das entbehrungsreiche Leben an seiner Seite ihre Freiheit aufzugeben, und er heiratet eine andere. Trotzdem bleibt sie ihm im Glauben und der gemeinsamen Arbeit zutiefst verbunden und hofft, auch ihre Schwester Catharine dafür gewinnen zu können.

Gina Mayer beschreibt die unterschiedlichen Wege der beiden Schwestern – und ihrer Pflegetochter Magdalena – über mehrere Jahrzehnte hinweg sehr authentisch und mit viel Einfühlungsvermögen, und bindet diese fiktiven Figuren sehr gekonnt und glaubwürdig in die tatsächlichen historischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts ein.


Stil und Sprache
Der Leser erlebt die Handlung wechselweise aus der Sicht der drei genannten Frauen. Johannes Leben spielt sich ausschließlich in Kaiserswerth und Umgebung ab. Durch ihre – fiktive – Zusammenarbeit mit Theodor Fliedner bekommt man einen tiefen Einblick in die karitative Arbeit, die er und seine beiden Ehefrauen geleistet haben.
Man merkt in jeder Zeile, wie umfassend sich die Autorin mit dieser Epoche auseinander gesetzt hat. Eindringlich und bedrückend schildert sie das Elend der unteren Schichten, die Hoffnungslosigkeit der Menschen, die hungernden Kinder, den Schmutz und Gestank der schlechten Wohnverhältnisse: das alles meint man zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Dass es unter diesen Umständen zur Revolution kommt – in die Catherine durch ihren Geliebten Gustav hineingezogen wird –, kann man sehr gut nachvollziehen. Die tatsächlichen Ereignisse, wie z.B. das Verhalten des Königs, die Rede von Ferdinand Lasalle oder der Tod Robert Blums, sind sehr stimmig in die Handlung eingefügt. Die Sprache ist der damaligen Zeit angemessen, viele interessante Dialoge lockern die Handlung auf und lassen keine Längen aufkommen.

Zwischen den einzelnen Abschnitten liegen stets mehrere Jahre, was man einerseits bedauern kann,  anderseits erfährt man durch kurze Rückblicke, was sich inzwischen abgespielt hat, sodass einem nichts Wesentliches entgeht. Den Zeitraum von über 50 Jahren ausführlicher abzudecken hätte wohl auch den Rahmen des Buches gesprengt.

Figuren
Gina Mayer hat alle ihre Akteure sehr liebevoll und sorgfältig gezeichnet. Sie beschreibt ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen sehr einfühlsam. Es sind lebendige Menschen, deren vielfältige Schicksale beim Leser Sympathie und Interesse wecken, und mit denen er mitleiden und mitfiebern kann.

Da ist Johanne, die Fliedner liebt, aber lieber allein bleibt, als sich seinen Vorstellungen von ihrer Ehe – Seite 97 Zitat: „[...] als Pastorin müssen sie die Welt verleugnen [...]" - völlig unterzuordnen und ihre eigene Identität zu verlieren. Die Pflichterfüllung und Selbstaufgabe seiner späteren Ehefrauen konnte und wollte sie nicht aufbringen, und sieht sich dann auch – als jahrelange, heimliche Beobachterin von deren Situation – in ihrem Entschluss bestätigt. Catharine ist so viele Jahre jünger als ihre Schwester, dass Johanne sich eher als ihre Mutter empfindet und sie auch oft so behandelt, was natürlich zu Spannungen führt. Aber Catharine geht ihren eigenen Weg. Mit Gustav – der eigentlich Pfarrer werden wollte, aber angesichts von Not und Elend seinen Glauben an Gott verliert – schließt sie sich der Revolution an. Die gemeinsame Liebe zu ihrer Pflegetochter Magdalena ist das Band, das die Schwestern zusammenhält. Auch sie muss als angehende Künstlerin mit vielen Vorurteilen kämpfen, findet aber letztendlich das private Glück, das ihren Pflegemüttern versagt blieb.

Theodor Fliedner (1800 - 1864) sowie seine beiden Ehefrauen Friederike und Karoline sind historische Personen. Ihnen ein Denkmal zu setzen scheint mir das eigentliche Anliegen dieses Buches, und sie haben es wahrhaftig verdient. Mit erst 22 Jahren wurde Fliedner Pfarrer in Kaiserswerth. Von Anfang an war er bemüht, die Lage seiner armen Gemeinde zu verbessern. Er sammelte Spenden bei den wohlhabenderen Nachbargemeinden und sogar im Ausland. Er engagierte sich für Strafgefangene und die Einrichtung von Schulen und Waisenhäusern. Um die schlimmen Zustände in der Krankenpflege zu lindern, gründete er 1836 eine „Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen“, die erste Diakonissenanstalt, aus der alle weiteren hervorgingen.
Seine beiden Frauen waren sehr in seine Arbeit eingebunden, selbst während der häufigen Schwangerschaften schonten sie sich nicht, Friederike hatte 11 Kinder geboren, von denen nur 3 das Erwachsenenalter erreichten, bei der letzten Geburt starb sie. Ihre Nachfolgerin Karoline brachte 8 Kinder zur Welt, überlebte ihren Mann um 27 Jahre und war über 40 Jahre Vorsteherin des Diakonissen-Mutterhauses in Kaiserswerth.
Diese realen Geschehnisse verbindet Gina Mayer nahtlos mit den fiktiven Szenen aus dem Fliednerschen Familienleben, die der Leser immer wieder durch die Augen von Johanne und Catherine erlebt, und die sich durchaus so oder ähnlich abgespielt haben könnten. Tiefer Glaube, unermüdliche Arbeit, Pflichterfüllung und für die Frau Gehorsam waren für fromme Christen der damaligen Zeit oberstes Gebot, und es ist gut nachvollziehbar, dass das Leben im Pfarrhaus sich daran ausrichtete.

Aufmachung des Buches
Das broschierte Buch zeigt als Titelbild einen Ausschnitt des Gemäldes „Young Woman in Orison Reading a Book of Hours“ (Junge Frau, ein Stundenbuch lesend) von Ambrosius Benson (ca. 1495 - 1550).
Auf vier Zeilen aus dem 139. Psalm folgt als Einleitung ein Brief aus dem Jahre 1876, der – wie auch alle weiteren – kursiv gedruckt ist. Die eigentliche Handlung beginnt 1822 und gliedert sich in fünf unterschiedlich lange Abschnitte, von denen je zwei Johanne und Catharine und einer Magdalena gewidmet sind. Dazwischen liegen immer mehrere Jahre, sodass das Buch einen Zeitraum von 54 Jahren umfaßt. Mit einem Dank des Verlages an die LeserInnen endet es.

Fazit
„Die Protestantin“ ist zwar ein Roman, aber gleichzeitig auch ein großartiges Zeit- und Sittengemälde des 19. Jahrhunderts. So lehrreich – ohne zu belehren –, so spannend und berührend kann Geschichte sein. Ein wunderbares Buch, das ich sehr gern weiterempfehle.


5 Sterne


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