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Erst in den 1970er-Jahren erhielt die Berliner Mauer das Aussehen jenes weißen Betonbandes, als das sie sich ins kollektive Gedächtnis einbrannte – zuvor bestimmten Ziegelmauern, Hundelaufanlagen und Stacheldrahtzäune das Bild. Um 1965/66 fotografierten DDR-Grenzsoldaten den innerstädtischen Mauerstreifen auf einer Länge von über vierzig Kilometern und machten rund dreihundert Panoramaaufnahmen mit Blick auf Westberlin. Der Fotograf Arwed Messmer hat diese Bilder digital rekonstriert; die Autorin Annett Gröschner hat sie mit Bildunterschriften versehen. Diese „Foto-Schrift-Bilder“, ergänzt durch Soldatenporträts, Schnappschüsse und Protokolle von Fluchtversuchen, lassen den Alltag an der Grenze Revue passieren. Beiträge zur Architektur und Metamorphose der Mauer im Lauf der Jahrzehnte, zu ihrer literarischen Verarbeitung sowie zur fotohistorischen Bedeutung des Projekts öffnen den Blick für die faszinierenden Assoziationswelten eines Bauwerks, das wie kein anderes die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts symbolisiert.

 

Aus anderer_Sicht_Die_fruehe_Berliner_Mauer 

Digitalisierung der Bilder: Arwed Messmer
Auswahl der Texte: Annett Gröschner
Verlag: Hatje Cantz
Erschienen: 08/2011
ISBN: 978-3-7757-3207-9
Seitenzahl: 749 Seiten

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Stil, Bilder- und Textdarstellung
Bilder von der Mauer gibt es viele. Meist illustrieren sie menschliche Schicksale, indem sie Menschen ohne Hoffnung und voller Verzweiflung zeigen.
Dieser umfangreiche Bildband zeigt nun den Blick auf die Mauer „aus anderer Sicht“, nämlich aus der Perspektive der DDR-Grenzsoldaten, die auf die „nackte“ Mauer blicken – und zwar auf die frühe Mauer, die eher wie ein Provisorium wirkte und nicht wie der unüberwindliche Betonwall, der erst in den 70er Jahren daraus wurde.

Zu sehen sind vor allem schwarz-weiße Panoramaaufnahmen von der Ostseite der Mauer, die oft eher ein Zaun ist – und doch unüberwindlich. Auf Kartenausschnitten sieht man, welchen Teil der Mauer man als Panorama gezeigt bekommt. Auch anhand der genauen Koordinaten kann man sich orientieren. Die Exaktheit und Lückenlosigkeit ist dem ehemaligen Zweck geschuldet: Hier handelt es sich um eine fotografische Bestandsaufnahme, die dokumentieren sollte, wie die Mauer verlief, wo man was noch verbessern könnte etc. Der Fotograf Arwed Messmer hat das schwarz-weiße Archivmaterial digital rekonstriert und die Schriftstellerin Annett Gröschner hat die ebenfalls aus Archivmaterialien stammenden Bildunterschriften ergänzt. Etwa Meldungen von Vorfällen im Bereich der Grenze: „Im Postenbereich wurde sieben Mal mit Genussmitteln geworfen“ liest man da. Oder: „Zwei Westberliner Polizisten beschimpfen die Posten: 'Saubuletten – Trassenhunde'“.
Hier handelt es sich also ausschließlich um dokumentarisches Material und nicht um inszenierte Bilder, die etwas Bestimmtes ausdrücken sollen. Auch die Texte sind dokumentarisch und nicht fiktiv. Und gerade diese Tatsache, dass hier vermeintlich unpoetische, „rohe“ Informationen geliefert werden, machen den besonderen Charakter dieses Buches aus.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
In zahlreichen einleitenden Texten erfährt man historische Hintergründe, die Intention der „Macher“ (Schriftstellerin Annett Gröschner und Fotograf Arwed Messmer) und vieles mehr.
Texte über die Geschichte der Mauer (verschiedene Phasen), über die Grenzsoldaten („542 Tage. Legenden vom braven Soldaten“ - Zitat eines Soldaten: „542 Tage. Ich habe jeden einzelnen gehasst“), Fluchtgeschichten, kurze lobende und tadelnde Notizen im Telegrammstil aus dem Ehrenbuch der Grenzregimenter 31 und 37 („Er war stets bemüht, sein Fahrzeug in einen sauberen, betriebs- und verkehrssicheren Zustand zu bringen“, „Seine Waffenkammer nahm den ersten Platz unter den Waffenkammern des Grenzregiments ein“, „Er fuhr in die Nachtbar Ideal, blieb bis 5 Uhr und nahm alkoholische Getränke zu sich“, „Er wurde in der Gaststätte Idyll mit offenem Kragen angetroffen“, „Er besitzt ein kleines Mercedes-Spielzeugauto mit einem eingelassenen Bandmaß. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte EK-Stimmung.“) führen den Alltag an der Mauer und die Absurdität dieses Bauwerks vor Augen.

Die Ausführungen sind gut verständlich und ergänzen die Bilder auf hervorragende Weise und damit ergibt sich ein eindrucksvolles, dokumentarisches Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht. Alle Texte sind in deutscher und in englischer Sprache abgedruckt. Das Buch ist für alle an Zeitgeschichte interessierten Menschen geeignet, die einmal die Mauer „aus anderer Sicht“ sehen möchten – Menschen aus Ost und West!


Aufmachung des Buches
Das große Format des Buches (30 x 22 x 4,6 cm) ist nicht gerade handlich. Aber für dieses Buch sollte man sich einfach auch Zeit nehmen – es ist nicht dafür geeignet, mal so nebenbei durchgeblättert zu werden. Auf den schwarz-weißen Bildern sieht man neben den Mauerpanoramen auch „Tatortfotos“ - also Fotos, auf denen zu sehen ist, wo eine „Grenzverletzung“ stattgefunden hat (diese auf den ersten Blick vielleicht unspektakulären Fotos erzählen gerade dadurch eine Geschichte, dass so wenig darauf zu sehen ist – so lassen sie viel Raum für Assoziationen), Fluchtskizzen, Soldatenporträts (mit schwarzen Balken über der Augenpartie) und Wachtürme (sehr bedrückend).

Auch die Aufmachung dieses Buches ist etwas ganz Besonderes. Das hier verwendetete Papier ist ziemlich dünn, wirkt vergilbt und erinnert auch von der Qualität her an Akten – dieser Effekt ist sicherlich beabsichtigt. Zudem findet man hier einen besonderen Clou bei der Bindung: Sie ist offen, das heißt, das Deckblatt ist nicht mit dem Buchdeckel verklebt, auch der Nachsatz ist nur teilweise mit dem hinteren Buchrücken verklebt. Diese Freirückenbroschur ermöglicht es, dass man Bilder, die über eine Doppelseite gehen (was bei den Panoramen naturgemäß häufig der Fall ist), komplett sehen kann! Beim Durchblättern muss man einfach ein bisschen vorsichtiger mit dem Buch umgehen. Ich finde dieses Experiment hinsichtlich der außergewöhnlichen Bindung sehr interessant und auf alle Fälle geglückt! Es unterstreicht den besonderen Charakter dieses Buches zusätzlich.


Fazit
Nur wenige Sachbücher – v.a. wenn sie so ein bedrückendes Thema wie die Berliner Mauer behandeln – waren dazu in der Lage, mich als Leser und Betrachter derart zu fesseln wie dieses. Eigentlich wollte ich zunächst nur ein bisschen im Buch blättern, aber ich konnte das umfangreiche Werk, das über 700 Seiten umfasst, schließlich kaum noch zur Seite legen. Bilder und Texte nehmen einen einfach gefangen! Dieses Buch hat mich zutiefst beeindruckt.


alt


Hinweise
Rezension von Sigrid Grün


Dieses Buch kaufen bei: amazon.dealt

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