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Frau Demirtas, zu allererst möchte ich Ihnen zu Ihrem Erstlingswerk “Die Skulptur” ganz herzlich gratulieren! Natürlich fragt man sich stets, was einen Autor dazu bewegt, mit dem Schreiben zu beginnen. Wie war das bei Ihnen? Wann unternahmen Sie die ersten Gehversuche“?

Einen Gehversuch in dem Sinne hat es nie gegeben, weil das Schreiben, das Kreative, das Künstlerische, diese "andere Seite", wie ich es nenne, immer schon ein Teil von mir war. Allerdings ein Teil, den ich über lange Zeit nicht richtig ausgelebt habe bzw. nicht ausleben konnte. Bis dann der Zeitpunkt kam, als dieser Teil nach Verwirklichung verlangte. Und da war dann auch eben diese Geschichte, die ich lange schon im Kopf herumgetragen hatte, und ich begann einfach mit dem Schreiben. Das heißt, es gab in dem Sinne keine Vorübungen, kein Ausprobieren. Es war diese Geschichte, die ich dann einfach schreiben musste.

 


"Die Skulptur“ ist ein sehr ungewöhnliches Buch. Ungewöhnlich dahingehend, da es rein von den Gedanken und Emotionen der Protagonisten getragen wird. Um das Innere eines Menschen so exakt beschreiben zu können, bedarf es enormer Empathie. Haben Sie selbst sehr starke emotionelle Erfahrungen gemacht oder wie schafft man es sonst, die Gedanken- und Gefühlswelt zu lebendig darstellen zu können?

Ja. Da ist immer das Gefühl, als ob ich in meinem Leben schon so viele Leben er- und durchlebt habe. Das liegt sicher auch an meiner eigenen Biographie, die mich eben aus den Bergen Ostanatoliens bis in die Führungsetagen der Wirtschaft geführt hat. Und dazwischen liegen nicht nur über zweieinhalbtausend Kilometer messbarer Entfernung, sondern es liegen im buchstäblichen Sinn Welten dazwischen, deren Distanz in Kopf und Herz unmessbar bleibt. Es ist eine Distanz, die innerlich immer wieder überbrückt werden muss; es liegen Verluste auf dem Weg dazwischen, Ängste, Verzweiflung, Einsamkeit und Ungewissheiten, die alle ihre Spuren hinterlassen haben. Und die mächtigste Spur ist die, eigentlich nirgendwo wirklich zu sein, sondern immer auf einem Weg zu bleiben, nicht anzukommen. Daher kommt vielleicht diese besondere Empfänglichkeit.


Was hat Sie dazu bewogen, ein so „intimes“ Buch zu schreiben? Viele Menschen werden sich in Ihrem Buch zwar wiederfinden, aber kaum jemand steht offen zu solchen Gefühlen. Wollten Sie damit auch etwas Bestimmtes sagen?

Ja, ich wollte etwas damit sagen, was mir sehr wichtig war und ist. Es geht einmal um die Figur der "Warin", die sich entwickelt, um diese bedingungslose Kraft und Macht der Liebe, die uns in unglaubliche Höhen tragen oder eben in bodenlose Abgründe reißen kann - ohne dass wir Kontrolle darüber haben. Die Liebe, ein eigentlich ja positives Gefühl, kann als abhängige Leidenschaft auch vernichtend sein. Denken wir etwa an Prousts Definition von Liebe als "Krankheit". Und die Hilflosigkeit einer solchen Vernichtung gegenüber, die für den Außenstehenden vollkommen absurd erscheinen muss, die wollte ich mit größtmöglicher Authentizität und Genauigkeit beschreiben. Ich gestehe an der Stelle gern meine Begeisterung für Dostojewski.

Und dann geht es mir anhand des "Karl" im Roman um die Frage: Wer sind wir eigentlich, wer sind wir ursprünglich, und was von dem, das wir waren, sind wir noch oder was hätten wir unter anderen Umständen vielleicht auch werden können? Nicht alle Kinder auf der Welt haben das Glück, in Geborgenheit, in Liebe und Wärme aufzuwachsen. Wie wären solche Menschen geworden, wenn alles für sie anders oder nur normal  verlaufen wäre? Beziehungsweise wenn ihnen, wie im Falle Karls, eine frühe traumatische Erfahrung erspart geblieben wäre? Vielleicht ist diese Frage auch kaum oder gar nicht zu beantworten, aber wir können uns nicht davon befreien, sie uns zu stellen und uns daher die Verantwortung bewusst zu machen, die wir für andere tragen.

In dem Sinn war es mir wichtig, meine Figuren sozusagen ganz auszuziehen, ohne Schutz und Ausweg und Halt, wie es vielleicht jeder von uns irgendwann im Leben mal erlebt hat oder erlebt, ich meine diese Momente, wo man sich kaum vorstellen kann, dass es einen weiteren gibt …


Wie viel Ipek Demirtas steckt in Ihrem Buch?

Ich werde oft gefragt, warum ich keine Autobiographie schreibe. Meine Antwort war und ist, dass es mir bis heute unmöglich bleibt, sozusagen eins zu eins, ungedeckt und unmittelbar über mich, über das zu schreiben, was ich in meinem Leben erlebt und erfahren habe. Ich brauche für mich eine Art Schutz, eine letzte Distanz zu mir selbst.

Natürlich enthält der Roman autobiographische Motive, spinnt er sich um Fragen, die mich selber betroffen und bewegt haben, es auch immer noch tun. Aber in seinen beiden Hauptfiguren fließen eben eigene Erfahrungen, Beobachtetes, Reflektiertes, fließen Biographie, Empirie, Philosophie ineinander, getragen und geführt gleichzeitig durch die, wenn man so sagen kann, künstlerische Freude an der sprachlichen Gestaltung. So ist „Die Skulptur“ im besten goetheschen Sinne „Dichtung und Wahrheit“, will sagen, das Erdichtete ist immer auch wahrhaftig wie das Wahre immer auch verdichtet.


Auf einer Internetseite fand ich die (etwas befremdende) Äußerung eines Lesers zu Ihrem Buch, der überrascht war, dass Sie gebürtige Kurdin sind und - „trotzdem so ein Buch geschrieben haben.
Durch solche Aussagen merkt man doch, dass sich bei vielen Menschen ein bestimmtes Bild eingeprägt hat, wenn jemand ein anderes Geburtsland als Deutschland hat. Dass es in jeder Kultur und in jedem Land weltoffene und kreative Leute gibt, überrascht anscheinend viele. Kommt es öfter vor, dass Menschen erstaunt sind, wenn Sie Ihre Biographie lesen?

Diese Irritation von Menschen über meine Biographie habe ich oft erfahren. Sie enthält eben große Kontraste. Meine Existenz und mein Wesen sind voller Gegensätze und Widersprüche und manchmal irritiert es mich sogar selbst. Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich anders bin, und ich habe mich daran gewöhnt, irgendwie immer ein Fremder zu sein, wo ich auch bin. Dieser rote Faden zieht sich durch mein ganzes Leben. Das hat aber viel weniger politische oder gesellschaftliche als innere Gründe - Wenn es an der Stelle erlaubt ist: Von solchen inneren Gründen, von einem solchen "Weltenkreuzer", handelt mein nächster Roman, das Manuskript ist gerade fertig geworden.


Haben Sie selbst beim Lesen bestimmte Vorlieben oder bevorzugen bestimmte Autoren? Haben Sie ein Vorbild in der Literatur?

Ich lese viel, wobei es Phasen gibt, wo ich weniger lese, vor allem, wenn ich beruflich sehr eingespannt bin. Ich liebe die französische Literatur, die deutsche und russische. Zu meinen Lieblingsautoren zählen, neben dem schon erwähnten Dostojewski, J.P. Satre, Albert Camus, Marcel Proust, Thomas Mann, Hermann Hesse. Die jetzt nicht Aufgezählten mögen es mir verzeihen.


Wie darf man sich Sie beim Schreiben vorstellen? Schreiben Sie zu bestimmten Zeiten oder notieren Sie sich auch zwischendurch Gedanken? Wie gehen Sie vor, wenn Sie schreiben?

Jeder Roman ist anders entstanden. Die Skulptur hat sich in Kleinarbeit über sechs Jahre vollzogen. Ich habe überall, wo ich war, Gedanken und Empfindungen festgehalten und irgendwann zu Papier gebracht. Heute schreibe ich anders. Es gibt nicht mehr ganz so viele Notizen, und die Hauptarbeit findet in meinem Kopf statt, bevor es dann geschrieben wird.


Sie werden doch hoffentlich weiter schreiben. Haben Sie schon eine Idee zu Ihrem nächsten Buch oder schreiben Sie gar schon an einem neuen Roman?

Wie schon erwähnt, mein zweiter Roman liegt als Manuskript vor. Da kommt jetzt die Handkorrektur und dann geht‘s an den Verlag.


Dürfen wir schon etwas über Ihr künftiges Buch erfahren? Wird die Thematik wieder die Gefühlswelt sein oder begeben Sie sich in eine ganz andere Richtung?

Ja und nein. Es ist, wie gesagt, der Roman über einen "Weltenkreuzer", genauer einen türkischen Mann, der in Deutschland alles erreicht hat und durch den Tod seines Vaters nach fast zwei Jahrzehnten des Schweigens wieder mit seiner türkischen Vergangenheit, seinen Wurzeln, seiner Familie konfrontiert wird. Es geht in diesem Roman überhaupt nicht um Politik, Integration und dergleichen, sondern - und da sind wir dann wieder bei den "Gefühlen", um die ganz persönliche Innenansicht eines solchen "Welt"- oder auch "Identitätswechsels", ganz unabhängig von allem äußeren Gelingen und Erfolg.


Wie schwer war es für Sie, einen Verlag zu finden und wie kamen Sie zum Acabus-Verlag?

Es war üblich schwer, einen Verlag zu finden. Ich habe ca. 20 Verlage angeschrieben. Immerhin waren die Absagen aber teilweise wirklich qualifiziert, doch die meisten Verlage trauten sich an so einen schweren Stoff, noch dazu als Debütroman, nicht heran. Zumal ich ja auch auf jede zeitaktuelle, themen- oder formgängige "Verpackung" verzichtet habe.


Ihr nächstes Buch erwarte ich mit Spannung und bin sehr neugierig, wie dieses aufgebaut ist. Sie haben einen wirklich schönen Debütroman geschrieben und sich somit die Messlatte selbst sehr hoch gelegt. Für Ihre weiteren Werke wünsche ich Ihnen viel Erfolg und bedanke mich ganz herzlich für das Interview!

Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, die nachdenklichen Fragen und würde mich meinerseits freuen, wenn Sie auch mein nächstes Buch rezensierten!

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