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Herta Müllers Atemschaukel ist ein Ereignis. In einem überwältigenden, poetischen Roman erzählt sie vom Schicksal eines jungen Mannes aus Siebenbürgen im russischen Arbeitslager.

"Ich setzte mich an den Tisch und wartete auf Mitternacht. Und Mitternacht kam, aber die Patrouille hatte Verspätung. Drei Stunden mussten vergehen, das hielt man fast nicht aus. Dann waren sie da. Die Mutter hielt mir den Mantel mit dem schwarzen Samtbündchen. Ich schlüpfte hinein. Sie weinte. Ich zog die grünen Handschuhe an. Auf dem Holzgang, genau dort, wo die Gasuhr ist, sagte die Großmutter: ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.
Ich habe mir diesen Satz nicht absichtlich gemerkt. Ich habe ihn unachtsam mit ins Lager genommen. Ich hatte keine Ahnung, dass er mich begleitet. Aber so ein Satz ist selbständig. Er hat in mir gearbeitet, mehr als alle mitgenommenen Bücher. ICH WEISS DU KOMMST WIEDER wurde zum Komplizen der Herzschaufel und zum Kontrahenten des Hungerengels. Weil ich wiedergekommen bin, darf ich das sagen: So ein Satz hält einen am Leben."

 

Autor: Herta Müller
Verlag: Hanser
Erschienen: 2009
ISBN: 9783446233911
Seitenzahl: 303 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Im Januar 1945 werden alle in Rumänien lebenden Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Der 17-jährige Leopold Auberg wird in ein ukrainisches Strafgefangenenlager verschleppt. Fünf Jahre lang wird er gedemütigt und unter menschenverachtenden Bedingungen zu Schwerstarbeit gezwungen. Als er 1950 nach Siebenbürgen zurückkehrt, ist er gezeichnet von den unendlichen Qualen, die ihm Hunger, Kälte, Angst und das Leid, das er mit ansehen musste, bereitet haben. Diese traumatischen Erfahrungen prägen sein ganzes weiteres Leben.

Herta Müller hat gemeinsam mit Oskar Pastior den Versuch der Aufarbeitung einer großen menschlichen Tragödie unternommen. Als Pastior 2006 überraschend verstarb, war die rumäniendeutsche Autorin zunächst wie gelähmt, doch nach einem Jahr nahm sie die Arbeit an dem Buch wieder auf. Gestützt auf die Aufzeichungen, die sie nach vielen Gesprächen mit dem Lyriker Pastior gemacht hatte, zeichnet Müller ein erschütterndes und zugleich zutiefst beeindruckendes Bild von einem Kapitel in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das bisher weitgehend tabuisiert wurde. Die Autorin hat damit ein Werk geschaffen, das die Ungeheuerlichkeit menschlichen Handelns auf eindringliche Art und Weise aufzeigt.


Stil und Sprache
Herta Müller ist in meinen Augen die beste deutschsprachige Autorin. Ihre bildhafte und poetische Sprache ist von einzigartiger Strahlkraft. Rau und doch voller Poesie geht davon eine Faszination aus, der man sich nicht entziehen kann. Der "Hungerengel", die "Herzschaufel" oder die "Blechküsse" sind nur drei Beispiele für die intensive Bildhaftigkeit und Sprachgewalt, die Müllers Stil charakterisieren.
Ihre Texte sind weitherhin geprägt von zahlreichen Parataxen, die die Aussagen präzise auf den Punkt bringen.
Polyglossie spielt auch in diesem Buch der Autorin aus dem Banat eine wichtige Rolle. Einflüsse aus dem (deutschen) Dialekt, dem Rumänischen und dem Russischen sorgen für einen besonderen Reiz. Besonders interessant fand ich auch die sprechenden Namen, wie z.B. Tur Prikulitsch (Prikulitsch = Werwolf).

In der "Atemschaukel" berichtet Leopold Auberg vom unmenschlichen Lageralltag. Man merkt, dass viele tatsächliche Lagererlebnisse (vor allem von Oskar Pastior) verarbeitet werden. Die Worte der Erzählfigur haben mich zutiefst berührt und erschüttert. Gerade durch Elemente, die sich wiederholen (der alltägliche Hunger, die Kälte etc.) erzeugt die Autorin Spannung, denn es erscheint immer weniger möglich, die Umstände weiterhin zu ertragen. Bestimmte Motive (z.B. die Herzschaufel, der Hungerengel, das Meldekraut) kehren immer wieder. Damit wird klar, dass der Hunger immer wieder ins Leben einbricht - ohne Ausnahme.


Figuren
Leopold Auberg ist 17 als er in den Gulag deportiert wird. In seiner Heimatstadt hat er aufgrund seiner Andersartigkeit sehr gelitten. Homosexuelle werden aus sämtlichen Bezugssystemen (Familie, Schule...) ausgeschlossen und sogar schwer bestraft. Deshalb kommt ihm "dieses Wegfahren zur rechten Zeit" (S.7): "Ich wollte weg aus der Familie und sei es ins Lager." (S.11) Doch das Lager stellt sich als Hort der Unmenschlichkeit heraus. Hunger, Kälte, Demütigungen, Misshandlungen und der Tod zahlreicher Mitinhaftierter traumatisieren Auberg. Als er nach Siebenbürgen zurückkehrt, ist er ein anderer geworden.
Die anderen Lagerinsassen werden ebenfalls eindringlich charakterisiert. Angst und Hunger, Krankheit und Tod, lassen jeden einzelnen ein Stück seiner selbst verlieren. Eine Figur unterscheidet sich stark von den anderen Inhaftierten: Die "Planton-Kati", die "schwachsinnig geboren" wurde und fünf Jahre nicht "wusste, wo sie ist" (S. 101).
Im Gegegensatz zu den Deportierten wirken die Daheimgebliebenen in ihren Aussagen oft seltsam grob und unsensibel, da sie den Lageralltag nicht miterlebt haben.
Müller zeichnet Seelenlandschaften, die den Leser in ungeahnte Tiefen hinabziehen. Sie zeigt Abgründe auf, die einen erschauern lassen.


Aufmachung des Buches
Das Buch ist fest gebunden und mit einem Schutzumschlag versehen. Die Aufmachung der Bücher aus dem Hanser Verlag entspricht in meinen Augen der besten denkbaren Art, Bücher zu gestalten. In der unteren Hälfte des Covers stehen Autorenname und Titel - auf weißem Grund. Die obere Hälfte zeigt eine schwarz-weiße Aufnahme: Ein junger Mann mit eingefallenen Gesichtszügen raucht auf dem Rücken liegend eine Zigarette. Der Bucheinband passt sehr gut zum Inhalt.


Fazit
Herta Müller beweist auch mit "Atemschaukel" wieder einmal eindrucksvoll, dass die zeitgenössische deutsche Literatur so groß sein kann. Ich habe alle ihre Bücher (inklusive der Essays, Poetikvorlesungen und der Collagelyrik) gelesen und kann diese Autorin nur empfehlen. Ich wünschte, Müller würde in Schulen gelesen, denn ihre Texte können für so viele wichtige Themen sensibilisieren. Und ihre Sprache gehört einfach zum Besten, was der Buchmarkt zu bieten hat. Sie hat den Nobelpreis absolut verdient.
Bleibt nur noch zu sagen: Lesen Sie Herta Müller, ihre Literatur ist schlichtweg beindruckend.



Hinweise
Rezension von Sigrid Grün
Herzlichen Dank an den Hanser-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.


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