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TTT #669: Zeige uns deine zehn liebsten Buchtipps von Selfpublish…

  Zeige uns deine 10 liebsten Buchtipps von Selfpublishern

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Mein SuB kommt zu Wort – März 2024

  Die Temperaturen schwanken zwar immer noch regelmäßig zu "sehr kalt", aber die Blütenpracht und erste grüne Bäume machen es ganz deutlich: der Frühling ist da! Ich liebe die Aufbruchsstimmung, die diese Jahreszeit mit sich bringt und all die intensiven Farben. Da will man automatisch raus in die Natur - dank Hörbüchern heißt das aber zum Glück nicht, dass man auf die üblichen Lesestunden verzichten muss ;-) Neben vielen schönen Spaziergängen steht für mich auch die Leipziger Buchmesse endlich mal wieder auf dem Programm. Bevor ich dafür meine Tasche packe, lasse ich aber vorher noch meinen SuB ( = Stapel ungelesener Bücher) zu Wort kommen. Alle Informationen zu dieser Aktion find...

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Mein SuB kommt zu Wort – Februar 2024

  Die ersten zwei Monate des Jahres sind schon beinahe rum - kaum zu glauben, wie der Jahresanfang immer rennt :-) Lesetechnisch bin ich sehr gut ins neue Jahr gestartet. Ich hab viele tolle Bücher schon gelesen quer durch alle Genres, die mein SuB ( = Stapel ungelesener Bücher) so zu bieten hat. Ich werde auch gleich wieder zu meiner aktuellen Lektüre, "Das Lied von Vogel und Schlange", zurückkehren, aber vorher kommt noch mein SuB zu Wort. Alle Informationen zu dieser Aktion findet ihr hier und hier den letzmonatigen Beitrag. Ins Leben gerufen wurde die Aktion "Mein SuB kommt zu Wort" von der lieben Anna von Annas Bücherstapel. Mittlerweile haben Melli und Vanessa die Aktion übe...

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TTT #662: Zeige uns 10 Bücher, deren Titel mit dem Buchstaben T b…

  Zeige uns 10 Bücher, deren Titel mit dem Buchstaben T beginnt

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Mein SuB kommt zu Wort – Januar 2024

  Allen Leserinnen und Lesern auf diesem Weg noch alles Gute für das neue Jahr! Wie jedes Jahr starte ich immer mit viel Lese-Lust und Begeisterung für meine SuB-Bücher ins neue Jahr - ganze fünf Bücher konnte ich schon beenden und alle waren aus den Reihen meines SuB ( = Stapel ungelesener Bücher). Bevor ich mich gleich wieder der aktuellen Lektüre "The Atlas Paradox" widme, überlasse ich nun auch nochmal meinem SuB das Wort. Alle Informationen zu dieser Aktion findet ihr hier und hier den letzmonatigen Beitrag. Ins Leben gerufen wurde die Aktion "Mein SuB kommt zu Wort" von der lieben Anna von Annas Bücherstapel. Mittlerweile haben Melli und Vanessa die Aktion übernommen. ...

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Nichts kündigte die seltsamen Ereignisse dieses Tages an. Kein plötzliches Geräusch am Fenster, das sie mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf gerissen hätte. Kein morgendliches Gewitter entlud sich mit einem Donnerschlag über der Küste, an die sich ihr kleines Haus schmiegte.
Auch die schwere Schiffsglocke, die ungeschützt vor dem Westwind auf der Veranda hing, gab an diesem Morgen keinen Laut. Wie in atemloser Ahnung hing sie an dem dicken Hanfseil, ihr zitternder Klöppel nur ein gusseisernes, uneingelöstes Versprechen ihres volltönenden Klangs. Eine feierliche Stille hatte sich über die Insel gestülpt.
Es war der 9. Mai. Ein Samstag.
Die alte Dame erwachte mit einem leisen Seufzer. Ein Traum kämpfte noch mit klammen Fingern, um sie zurückzuholen. Seine Geschichte war noch nicht zu Ende erzählt, und er warf seine kandierten Köder nach ihr aus; Bilder von blau-grünen Wirbeln, schnellen, eleganten Bewegungen und tiefem Frieden irrlichterten durch sie hindurch. Sie schloss den Morgen aus, drehte sich mit flatternden Lidern in den Kissen im vergeblichen Versuch, diese tröstlichen Schatten zu halten, neu zu erleben. Je mehr sie danach griff, desto weiter entfernten sie sich, bis nur noch ein fahler Nachhall blieb. Und auch der verblasste schließlich wie Frühnebel unter der Sonne.
Verwirrt setzte sich auf, stützte sich auf den rechten Arm und musterte erschöpft ihr Schlafzimmer, als sähe sie es zum ersten Mal in diesem anderen Land. In dem Land, in dem es Samstag war und der 9. Mai. Nicht irgendein Tag für die alte Dame. Es war der Tag. Nicht mehr so schrecklich wie vor 32 Jahren, nicht mehr so furchtbar wie in den ersten Jahren danach, aber immer noch der Tag, der sie mehr als die anderen bedrückte. Kummer ist keine Frage des
Kalenders.
Alles war dennoch wie an jedem Morgen. Welch' eine Überraschung, dachte sie und schniefte, um die trockene Nase frei zu bekommen. Sie schlurfte in den zu großen Pantoffeln zur Kaffeemaschine, zählte das Pulver ab, füllte den Wasserkessel, wärmte die Milch und warf vom Küchenfenster aus einen prüfenden Blick in den Himmel. Hier an der Küste schlug das Wetter schnell um. Ein halbes Jahrhundert lebte die alte Dame schon auf der Insel, unweit vom Festland. Sie hatte gelernt, die Wolken zu lesen und den Wind zu deuten. Sie stand mit den Gezeiten auf, legte sich mit den Wellen schlafen, der verschleierte Mond verriet ihr, wann ein Sturm aufkommen würde, und die Küstenschwalben verkündeten Regen über ihrer Terrasse. Heute war der Horizont wie leergefegt.
Sie kratzte sich den schmerzenden Rücken und quirlte mit der anderen Hand die Milch auf, bis sie dickflüssig wurde. Die alte Dame gähnte, als sie sich nach dem braunen Zucker streckte – es würde ein sonniger Tag werden mit wenig Wind. Sie könnte mit dem Rad in die Stadt fahren, und heute Nacht würden die Kerzen nicht verlöschen.
Auf dem Weg nach draußen nahm sie die gerahmte Fotografie vom Vertiko, strich sanft etwas Staub vom Glas, blies noch einmal darüber und ließ sich unter dem Vordach ihres Hauses in einen Korbstuhl sinken. Sie stellte den Kaffeebecher ab, um beide Hände frei zu haben. Dann nahm sie das Bild wieder hoch, hob es sorgfältig auf den Tisch, achtete peinlich darauf, dass das Glas in der aufgehenden Sonne nicht spiegelte, griff nach dem Kaffee und ließ sich ächzend zurücksinken, die Hände um den heißen Becher geklammert. So saß sie da, das schweigende Haus im Rücken und vor ihr auf dem niedrigen Tisch - neben einer atemberaubenden Aussicht auf das glitzernde Meer - das Bild eines
Fischers.
Hoch aufgereckt steht er neben einem Kutter, der ausgebleiche Namenszug „Paula E.“ in Höhe seines Herzens. Unter seiner Mütze, die das schwarze Haar mühsam zurückdrängt, das stolze Lächeln eines Eroberers, so hält er sich an den Netzen gerade, die vom Mastbaum schaukeln. Grübchen in den Wangen, die Zähne blitzen aus einem dunklen Gesicht. Ein junger, gut aussehender Mann.
Das schwarzweiße Bild schneidet ihn in Hüfthöhe ab, aber man ahnt, wie er breitbeinig auf der Mohle steht, wahrscheinlich in schweren Arbeitsstiefeln, gewohnt, sich von Wogen wiegenden Wassers nicht in die Knie zwingen zu
lassen.

Der Blick der alten Dame wechselte von der Fotografie hinaus in die Ferne.
Wanderte dann wieder zurück zu dem Bild vor ihr. Verweilte ein wenig. Um sich dann wieder im Hellblau des Horizontes zu verlieren. Sie tastete forschend die dünnlippige Linie ab, an der sich Himmel und Meer eins werden. Wie an einer Schnur gezogen spähte sie aufmerksam die Grenze entlang, bis ihr die Landzunge des Festlands die Sicht versperrte. Von dort wieder zurück; dann wieder das Bild. Sie schüttelte den Kopf, tief in Gedanken, als müsse sie vergleichen, was nicht zu vergleichen ist. Manchmal bewegten sich ihre Lippen im tonlosen Gespräch, während sie sich verlegen die Ohrläppchen zupfte oder fast ermahnend den Finger hob. Ein Wechsel ohne Worte, ein Ruf hinein ins Stumme. So saß sie da, wie sie seit 32 Jahren an jedem Morgen am neunten Tag im Mai dasaß. Es gab längst kein Warten mehr, kein Hoffen auf Antwort. Ihre Wache oben auf der steilen Küste war eine Ehrenwache der Erinnerung, ein Salut an die Sehnsucht und vielleicht etwas Trost in der Einsamkeit. Mag sein, ein Ritual. Wenn sie darüber nachdachte, schmerzte es sie. Alles, aber bitte, nur keine Routine, es wäre ein Verrat gewesen. Denn, so dachte sie, wo ich bin, da ist er. Gewohnheit tötet kälter als die See.
Die Kaffeetasse in ihrer Hand war längst erkaltet. Sie bemerkte es nicht, nippte mit spitzen Lippen daran, verzog den Mund und stellte sie weg. Es wurde sowieso Zeit, in die Stadt zu fahren. Kerzen hatte sie auch nicht mehr für den Abend und der Kühlschrank war leer. Vielleicht würden ja die Enkel am Sonntag kommen. Vielleicht. Sicher nicht wegen des 9. Mai. Den Tag hatten sie
längst verdrängt, vergessen. Es gab kein Grab, auf das man hätte Blumen pflanzen können, keinen Gedenkstein. Vieles wurde verdrängt in dieser zeitlosen Zeit, die keine Geduld, kein Verharren und keine Milde mehr kannte.
Nein, wenn sie kamen, dann nicht wegen ihm, sondern wegen der schönen Aussicht. Sie schnaubte verbittert. Es gab unten, hinter dem Pinienwald, eine leicht zu erreichende Bucht mit flachem Wasser fast vor ihrer Haustür, ideal, um in hellen Dünen zu picknicken und den Sand durch die nackten Zehen rieseln zu lassen. Vielleicht kämen sie auch, weil eines ihrer Kinder auf das Haus spekulierte. Vielleicht kämen sie aus Sentimentalität? Vielleicht aus Liebe?
Die alte Dame ließ sich noch einmal zurücksinken und schloss die Augen. Gerne hätte sie jetzt den jungen Mann gefragt, der so stumm aus diesem Rahmen schaute. Wie gerne hätte sie ihn gefragt in all den Jahren. Irgendetwas in all den stillen Abenden, in den Nächten, die nicht enden wollten. Nur um seine Stimme zu hören. Ob sie am Wochenende einen Ausflug machen sollen, zum Jahrmarkt aufs Festland. Wie der Fang war. Ob er kurz vor den Herbststürmen noch einmal hinausfahren wolle. Ob sie Angst um ihn haben müsse. Ob er ihr den Zucker reichen könne.
Egal, nur irgendwas.
Sie musste sich noch umziehen. Es ging auf Mittag zu. Das Frühstück würde sie wie so oft ausfallen lassen. Der Appetit nach Essbarem lässt nach mit dem Alter. Der Hunger nicht. Und noch etwas wurde ihr schwer zu halten: die Zeit.
Sie schlüpfte einem nur so durch die Finger, wenn man nicht aufpasst.

Sie nickte besonnen und blickte einem Schwarm Küstenschwalben nach, der flirrend Kurs aufs offene Meer nahm. Die alte Dame lächelte, man sollte doch einmal Im Morgenmantel auf den Wochenmarkt in der Stadt erscheinen, dachte sie, das würde ihren Ruf wohl endgültig ruinieren.
Gerade, als sie sich hochstemmen wollte, fiel ihr der rote Fleck auf dem Handrücken auf. Ein Marienkäfer hatte sich vom Wind herwehen lassen und rastete auf ihrer warmen Haut. Lief dann die blauen, buckligen Straßen der Venen entlang und verschwand in den Tälern ihrer Fingerknöchel, als sie die Hand in die Höhe streckte. Unter schweren Augenlidern beobachtete sie ihn, wie er mit zitternden Fühlern dem Zeigefinger folgte, mit dem die alte Dame den Weg in den Himmel wies.
Wenn man oben angekommen ist, muss man bereit zum Abschied sein, dachte sie und musste unwillkürlich kichern. Sie bedeckte mit der Linken ihren Mund und erinnerte sich an einen alten Brauch aus der Heimat. Als junge Mädchen, noch ungeküsst, voller schwärmerischer Träume, zählten sie gebannt und mit großen Augen die Sekunden, die der Käfer auf der Fingerspitze brauchte, um sich in die Luft zu erheben. So viele
Sekunden, so viele Jahre blieben noch bis zur Hochzeit mit dem Geliebten. Als der Käfer die Kuppe erreicht hatte, nichts mehr vor sich, als die große Leere, klappte die rotschwarze Kugel in der Mitte auf, und die Dame begann langsam zu zählen. Bei Zwei pumpte er, als müsse er Atem schöpfen, ein Vorrat für den unendlich langen Weg ins Blau, bei Vier begannen die Flügel zu beben, bei Sechs schwirrten Deck- und Unterflügel schon so heftig, dass sie nicht mehr zu
unterscheiden waren, und endlich, als die alte Dame „Sieben“ flüsterte, hob der Marienkäfer ab wie ein überladener Quirl. Schraubte sich Richtung offenes Meer und verschwamm als Pünktchen im Glast der Mittagssonne.
„Gute Reise, kleiner Kerl!“ Die Dame lächelte und wurde fast etwas traurig. „Sieben Jahre noch? Gegen sieben Stunden hätte ich auch nichts, mein Freund.“
Oh! Es wurde Zeit, sie musste sich beeilen. Sie schnippte mit den Fingern. Haselnusseis. Herrje! Sie hatte auch noch Haselnusseis einzukaufen. Das aß der kleine Jonathan doch so gern. Für die Großen eventuell Fisch, Seezunge etwa für sechs Personen. Sie könnte alles einfrieren, wenn der Besuch morgen ausbliebe. Und Kerzen. Wenn die Dunkelheit hereingebrochen war. Für ihn. Ja, Kerzen auch.


Die alte Dame schüttelte den Kopf, während sie die Brücke überquerte. Insgeheim aber schalt sie sich selbst. Zuerst war sie glücklich gewesen, dass kein schwerer Wind ging. Jetzt, als sie auf ihrem alten verrosteten Rad quietschend und rasselnd die Hälfte der Meerenge überquert hatte, schimpfte sie über die Hitze des aufkommenden Tages. Sie war immer noch rüstig, besorgte ihren Haushalt ohne Hilfe, aber eben nicht mehr die Jüngste. Vielleicht war sie deshalb auch einfach nie zufrieden. Irgend etwas war immer: Wind von vorn, der sie zurückdrängte, oder Böen von der Seite, die sie ans Brückengeländer drückten; ein Knie schmerzte rheumatisch, es war zu warm, es war zu kalt. Die Stadt lag nur zwanzig Minuten mit dem Rad entfernt, aber sie hatte dennoch die Markt-Besuche auf zweimal die Woche beschränkt, mehr Meter machte ihr kurzer Atem nicht mehr, oder die alten Knochen traten knirschend in den Streik. Mochte auch sein, dass ihr Rad unpässlich war, das – so dachte sie – mit ihr gemeinsam alterte. Ob in Würde, das war die Frage. Es bockte wie ein andalusischer Esel unter ihren schweren Tritten, kam nur widerstrebend vom Fleck, während die braunfleckige Kette asthmatisch rasselte und auf jedem abgerungenen Meter drohte, vom Zahnrad zu springen.
„Guten Morgen Paula, geht es gut? Endlich ein neues Fahrrad kaufen?“ Der Drogist lehnte gut gelaunt in seiner Ladentür und rauchte eine Zigarette. Er zwinkerte der alten Dame mit einem Auge zu, als sie ihr Rad zuerst umständlich abbremste, wie ein Schwan, der schwer und mit breitem Flügelschlag auf einem Teich landet, und dann seitlich ausstieg. Sie atmete schwer und brauchte ein Pause, bis sie sein Lächeln erwiderte. „Du kennst mich, schließlich fährt es ja noch. Es ist in seinen besten Jahren, das gute Stück.“
„Wie Sie, junge Frau, wie Sie“, gab der Mann galant zurück. „Aber wenn Sie jemanden brauchen, der Ihr treues Gefährt einmal entrosten soll, dann rufen Sie mich an. Ich übernehme das gerne.“
Die alte Dame nickte lächelnd und strich umständlich ihren Rock glatt. „Das werde ich, das werde ich. Aber heute steht mir der Sinn nur...“
„Ich weiß“, unterbrach der Drogist. „Nach Kerzen, großen weißen Kerzen. Ich weiß.“ Er schaute sie forschend an. „Ganz schön warm für einen 9. Mai, oder? Es wird windstill bleiben in der Nacht. Sie werden eine schöne Feier haben.“
Ausführlich nestelte die alte Dame an ihrer Einkaufstasche, um sie vom Gepäckträger zu befreien. Es war ihr immer unangenehm gewesen, wenn jemand Anteil nahm. Auch wenn es nicht zu verhindern war, schließlich lebte sie in einem Dorf, kaum etwas war Privatsache. Viele hatten ihn gekannt, einige lebten noch hier, die mit ihm lange Jahre zusammen hinausgefahren waren. Auf anderen Booten. Mit einer anderen Mannschaft. Nicht nur auf der Paula E..
Nicht am 9. Mai vor 32 Jahren.
Aber es war ihr Mann, es war ihr Tag. Allein ihrer. Sie ignorierte den Einwurf des Drogisten und rauschte geschäftig an ihm vorbei, hinein in den kühlen Laden. Sie kaufte fünf weiße große Kerzen, strich das Wechselgeld ein, dankte und war schnell wieder verschwunden.
„Alles Liebe, Paula. Ich sehe Sie in drei Tagen. Fahren Sie vorsichtig“, rief er ihr noch nach und steckte sich draußen hinter der hohlen Hand ein weitere Zigarette an. Es folgte noch etwas Unverständliches und ein leises Lachen. Sie winkte über ihre Schulter hinweg, als sie mit einer Hand ihr Rad zum Marktplatz schob, und sie drehte sich nicht um.
Noch war es zu früh im Jahr, um die Schwärme von Touristen anzuziehen, die unweigerlich wie die Kanadagänse im Sommer an der Küste einfielen. Noch war man unter sich. Die einzige Hauptstraße war leer und strahlte wie poliert in der Mittagssonne. Wer nicht über den Markt schlurfte oder in den umliegenden Cafés mit Nachbarn plauschte, ließ das Leben gemächlich an sich vorbeibummeln und hütete sich davor mitzuziehen. Alte Männer saßen auf Hockern vor ihren Häusern, wechselten belanglose Worte mit
Bekannten, beargwöhnten unter schattigen Hutkrempen die Fremden in ihren fabrikneuen Wagen, die ab und an einmal über die Straße schlichen oder dösten einfach nur, während ihnen der Saft des Kautabaks das Kinn herunter rann.
Die alte Dame grüßte hier, murmelte dort etwas über das Wetter, das viel zu warm sei für diese Jahreszeit, ließ sich aber nicht von ihrem Weg abbringen oder gar aufhalten. Sie kannte so gut wie alle, die hier lebten und hier sterben
würden. Seit sich der Fischfang nicht mehr lohnte, die Gründe leergenetzt waren, und fast überall an den Buchten da draußen, jenseits der Riffe und Sunden nichts übriggeblieben war, als nasse unfruchtbare Schöße salzigen Wassers, seitdem starben die Fischer aus. Die Jungen zogen weg ins
Landesinnere, wenige Familien lebten wenigstens in der Saison vom Tourismus, betrieben Restaurants oder Strandbuden in denen Holzfische, importierte Muscheln und klebrige Zuckerwatte verkauft wurden, pferchten die zahlenden Besucher auf schmale Boote und schipperten mit ihren Gästen auf bunt angemalten Kähnen die Küste entlang. Baseballmützen nickten oben mit dem Rhythmus der Wellen, weiße Beine, die aus kurzen Hosen stelzten, schlitterten unten über die Planken.
Einige Alte wurzelten einfach aus Trotz weiter, krallten sich wie knorrige Kiefern fest, aus Gewohnheit, einfach, weil sie die Küste Heimat nannten. So wie sie es auch tat, grübelte die alte Dame und seufzte ergeben. Einige hingen ihrer Jugend nach, die sie hier der See und dem Hafen geopfert hatten, andere harrten einfach nur noch auf das Ende eines langen arbeitsreichen Lebens.
Warten, Heimat ist warten, dachte die alte Dame, es ist ein Warten, ein Hoffen auf etwas, das nicht mehr kommt. Wie verführerisch und lähmend ist die Sehnsucht nach dem einen Stern, der einem zurück auf die starre Hand fallen möge. Sie wandte sich um, kniff die Augen zusammen und schaute zu dem Leuchtturm, der jetzt mit blinden Fenstern hoch oben über der Stadt weit über das Meer starrte. Ein Weg weisender Wächter mit gradem Rücken, dessen Feuer über einem toten Ozean erloschen ist und der keine Schiffe mehr zurückbringt aus der Nacht. Dennoch, es war ein Trost dabei. War es nicht wichtig, Hoffnung zu haben, einen Anker? So sann sie und straffte sich unwillkürlich. Ein kleines
Licht muss sein in mondloser Dunkelheit, murmelte die alte Dame und stopfte die Kerzen tiefer in den Beutel. Nicht, dass ihr mir herausfallt, wies sie sich zurecht, zog ruckend das quietschende Rad an und tauchte unter die Leute, die den Verkaufsständen zustrebten.
Eigentlich kaufte sie ihren Fisch immer als letztes, er sollte in der Tasche obenauf liegen, nicht gequetscht und schnell nach Hause gefahren werden.
Diesmal aber fiel ihr sofort der große Wagen des Fischverkäufers ins Auge.
Eine ungewöhnlich große Traube Menschen hatte sich um seinen Stand versammelt. Bestimmt zehn, fünfzehn Kunden und Neugierige umlagerten in drei ungeordneten Reihen die Theke, aber nur wenige schienen wirklich Fisch kaufen zu wollen. Die alte Dame stellte ihr Rad ab und quetschte sich grüßend und Entschuldigungen murmelnd nach vorn.
„Ah Paula, einen schönen guten Morgen. Moment, gleich sind Sie an der Reihe.“ Rufus winkte, während ihm eine Scholle, groß wie eine Bratpfanne, beinahe aus der Hand rutschte. Rufus kam mit seinen Fischen seit Jahren zum Markt, um hier das zu verkaufen, was der eigene karge Hafen nicht mehr hergab. Die Auswahl war groß, aber die alte Dame war erfahren genug, die wenige frische Ware sofort zu erkennen. Ein Blick, und die glotzäugigen Barben mit angebräunten Kiemen waren aus dem Rennen, aussortiert auch der Alaska-Seelachs. Ein Bauchgefühl. Tote Tiere aus Fabrikschiffen kamen nicht auf ihren Tisch. Sie war verwöhnt, versteht sich, aber inzwischen machte die alte Dame Zugeständnisse. Drei Tage auf der Straße und dabei in Eisschnee gelagert, das ging so gerade noch als frisch durch. Die Zeiten, in denen sie mit gezücktem Messer zwei Handvoll zappelnde, japsende Heringe durch die Küche jagte, waren lange vorbei.
„Was darf`s denn heute sein?“ Rufus wischte die verschleimten Hände an der fleckigen Schürze ab und stand erwartungsfroh vor ihr.
„Haben Sie Seezunge? Aber bitte nicht von dem Zeug für die Touristen, ja?“
Die alte Dame lächelte charmant.
Rufus verzog grinsend das Gesicht. „Sie sind ein Fuchs, Paula. Für Sie immer, für Sie immer. Für sechs Personen, wie jeden Samstag, meine Liebe?“
Die alte Dame nickte ergeben.
Er rief herüber zu seinem Gehilfen, der am anderen Ende der Theke das Gewünschte vorsichtig aus dem Eis hob und in Papier wickelte.
„Schon unseren Gast bewundert?“, fragte Rufus und wies mit dem schmalen Filetiermesser zur Seite. „Sie dürfen ihn mal streicheln. Frischer geht es auch für eine so anspruchsvolle Kundin wie Sie nicht.“ Er lachte und reichte ihr das Gewünschte herüber. Die alte Dame dankte artig, zahlte und versuchte einen Blick auf das zu erhaschen, was dort neben dem Stand von einigen Kunden umlagert war.
Das Päckchen mit der Seezunge dicht an den Leib gepresst drängte sich die alte Dame an einem dicken, schweratmenden Herrn mit Strohhut vorbei und legte die Hand auf den Rand eines großen Plastikbottichs, den die Leute umringten.
Sie beugte sich hinüber und riss unwillkürlich die Hand vor den Mund, um ihr Staunen zu verbergen. Bis an den Rand war der Bottich mit Wasser gefüllt und darin schwankte ein Fisch sanft hin und her wie ein Baby in einer riesigen Fruchtblase. Ein allerdings sehr großes Baby. Viel Platz ließ der Zuber dem Fisch nicht. Vorne stieß die Nase beinahe an die Wand, die Schwanzflosse fächelte ruhig seitwärts hin und her und schrammte dabei immer wieder mit einem kratzenden Geräusch am Rand entlang. Es war so eng, dass der schwarze Rücken blauschimmernd die Oberfläche durchbrach und in allen Regenbogenfarben glänzte.
„Ein Drache des Meeres“, murmelte die alte Dame und bewunderte die stachelige Rückenflosse, die sich safrangelb den gaffenden Menschen entgegenspreizte.
„Was glauben Sie, wie viel vitello tonnato man daraus schneiden könnte“, japste der dicke Mann neben ihr, musterte sie auffordernd und schob den Strohhut keck nach hinten. „Oder Sushi. Junge! Was für ein Brocken. Selbst für einen weißen Thunfisch ein kolossaler Kerl.“
Die alte Dame ignorierte die Speisenvorschläge ihres schwitzenden Nachbarn, nickte nur kurz ohne ihn anzusehen und konzentrierte sich lieber wieder auf den Fisch, der sich auf die Seite rollte und mit einem tiefschwarzen Auge nach oben lugte. Die alte Dame war seltsam berührt, als sie die lange Brustflosse betrachtete, die sich wie ein Arm an die schillernde Flanke presste. Unter der Oberfläche versank die Pracht des Thunfisches in ein stumpfes Braungrau, als ob sich die Herrlichkeit des Meeresgeschöpfs schamhaft mit einem Mantel bedeckte. Die alte Dame war abgestoßen und fasziniert zugleich und ganz in Betrachtung versunken. Wie nebenher tauchte ihre Hand ins Wasser und strich mit leichtem Druck über die Haut des Fisches. Glatt wie ein Flusskiesel und etwas ölig, ihr Finger glitt darüber wie über nassen Stahl.
„Heh, Paula!“
Sie zog schnell die Hand aus dem Wasser, wandte abrupt und ein wenig verschämt den Kopf, als habe man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Wieder hatte sie das Gefühl, sie sei in ein anderes Land abgetaucht und müsse sich aus der Versenkung sprudelnd wieder an die Oberfläche der Wirklichkeit zurückkämpfen. Wie ein unstetes Licht unter Wasser flackerte der Traum des heutigen Morgens wieder durch sie hindurch.
„Paula!“
Es war Rufus. Der Fischhändler hatte sich über die Verkaufstheke gelehnt und grinste sie frech an. „Sagen Sie mir noch mal nach, ich würde verdorbenen Fisch verkaufen. Für meine Kundschaft ist lebend gerade frisch genug.“
Zufrieden mit sich strich er ein paar kurze Lacher der umstehenden Kunden ein.
Er sah wieder zu der alten Dame hinüber. „Was glauben Sie denn, wie schwer der Thun ist?“
Die alte Dame zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Ist das ein Quiz oder ein Fischladen?“, gab sie leichthin zurück. Sie schaute zu dem Fisch, dann wieder zu Rufus zurück. „Na, seine 55 Kilo wird er schon haben. Ein Schöner ist das.“
Rufus hob den Daumen und nickte freundlich. Dann verschwand sein Kopf wieder hinter der Seite und er murmelte seinem Assistenten etwas zu. Beide lachten.
Der dicke Mann schob sich an die alte Dame heran. „Man muss sich was einfallen lassen, um Werbung zu machen. Die Konkurrenz schläft nicht, die Käufer sind verwöhnt“, sagte er und wies locker zu Rufus` Stand hinüber. „So viele Kunden hatte der bestimmt noch nicht an einem Morgen.“ Er beugte sich vertraulich zu der alten Dame hinunter, die etwas zurückwich. Die Fahne einer morgendlichen Portion Gin hüllte beide ein. „Klinken“, sagte er und schaute sie aus großen wässrigen Augen an, die die alte Dame an die überreifen Barben aus Rufus` Auslage erinnerte.
„Klinken?“, echote die alte Dame. „Ach...“
Er ließ sich nicht beirren. „Genau, Sie müssen wissen“, flüsterte er, als gäbe er das Geheimrezept von Coca-Cola preis, „ich bin nämlich auch in der Werbebranche. Klinken. Türklinken“, nickte er gewichtig. „Ich reise in ihnen.“
Seufzend wandte sich die alte Dame von dem Behälter ab, schüttelte die rechte Hand, um das Wasser abzuwedeln, und schaute dem Mann in die Augen. Er lächelte breit und sah erwartungsvoll auf sie herunter.
„Das tut mir leid für sie“, sagte sie und schob sich rückwärts.
Der Mann hob die Hand, vielleicht, um sie zurückzuhalten. Doch die alte Dame war schneller als er und wandte sich flink wie ein Aal durch die Reihen der Zuschauer. Sie fand ihr Rad angelehnt an der Mauer einer Bäckerei und schob die letzten Meter zum Supermarkt. Haselnusseis stand noch ganz oben auf ihrer Einkaufsliste.
Sie empfand keine Erleichterung, dem aufdringlichen Herrn entkommen zu sein. Gerne wäre sie geblieben. Sie sah noch einmal zurück. Der Mann war in der Menge verschwunden, sie erhaschte einen Blick auf den Bottich und ganz kurz, ganz kurz nur sah sie eine der schwefelfarbigen Finnen des Fisches über den Rand ragen. Eine zerfranste Fahne des Protests, ein Segel der Heimkehr aus einem entfernten Land. Ein Wink des Erkennens unter Liebenden? Die alte Dame schüttelte heftig den Kopf. Unsinn. Sie löste sich mit einem Ruck aus den Klammern ihrer Gedanken und zwang sich zurück auf den Weg.
Der Supermarkt. Eis mit Haselnussgeschmack. Brot für die Kinder und die Familie. Vielleicht etwas Wein. Vielleicht kommen sie ja doch noch. Morgen, nach der Feier. Ja, morgen vielleicht.



Sie erschreckte sich so heftig, dass sie sich beinahe in die Finger geschnitten hätte. Jählings warf sie das Messer in die Spüle, als sei ein Stromstoß hindurchgefahren. Die Küche war gleich der erste Raum in dem kleinen Flur, der zur Eingangstür führte. Sie hatte keine Gäste erwartet, geschweige denn sehen können, weil das Fenster teils auf den Hinterhof hinausschaute, teils den Blick auf die Steilküste freigab. Dort draußen, auf einem schmalen Eichentischchen, standen schon die Kerzen aufgereiht wie auf einem Altar, umragten das Schwarzweißbild des jungen Fischers in einem Halbkreis, wie heilige Steine einen keltischen Opferaltar. Vor der gerahmten Fotografie ein Lederbeutel, ein paar alte, mit breiten Bändern verschnürte Briefe und einige getrocknete Blumen, die vielleicht einmal Rosen gewesen waren, jetzt aber nur noch mit ihren gedörrten Stielen und gefledderten Kelchen floralen Mumien glichen. Alles war sorgfältig vorbereitet.
Wie an jedem 9. Mai seit 32 Jahren.

Die alte Dame hatte eifrig den Fisch gewaschen, abgetrocknet und für den Kühlschrank vorbereitet, gleichzeitig auf das Telefon gelauscht. Sie würden sicher anrufen, wenn sie morgen kommen wollten. Aber es blieb still im Haus, still wie immer. Den Fisch putzend war ihr Blick immer wieder abgeschweift, auf das Meer, das die tief stehende Nachmittagssonne widerspiegelte, glatt wie geschliffenes Glas. Die Schreie der kreisenden Silbermöwen drangen gedämpft durch die angelehnten Fenster.
Auf das Schrillen des Telefons war sie gefasst. Aber nicht auf das bronzene, durchdringende Bellen der Schiffsglocke vorn auf der Veranda. Es war, als hätte sie jemand von hinten gestoßen, so sehr hatte sie sich erschreckt.
„Verdammt...“, keuchte sie. Ihr Herz zappelte wie eine springende Forelle aus dem Hals heraus und die alte Dame musste zwei, dreimal tief durchatmen, bevor sie in den Flur eilte, um nach dem überraschenden Besuch zu sehen. Doch nicht
jetzt schon ihre Kinder und Enkel?, dachte sie, während sie sich die Hände an der Schürze abwischte. Ein großer Schatten zeichnete sich an der Eingangstür hinter den gestickten Bordüren ab.
„Rufus?“
Der alten Dame stand der Mund offen vor Staunen. Der Fischhändler stand breit grinsend auf der Schwelle, hatte die Hände in die Hosentaschen gestemmt und schien die Verwunderung der alten Dame zu genießen. Er sagte nichts, schien darauf zu warten, dass sie reagierte.
Die alte Dame schluckte. Sammelte sich. „Was verschafft mir die Ehre? Bekomme ich noch Wechselgeld, oder hab ich die Seezunge etwa nicht bezahlt?“
„Im Gegenteil, liebe Paula, im Gegenteil. Wir...“, er wies mit dem Daumen hinter sich, wo sein Gehilfe mit verschränkten Armen an dem kleinen
Transporter lehnte. „Wir schulden Ihnen was.“ Er machte eine Kunstpause und musterte die alte Dame vergnügt. „Herzlichen Glückwunsch, Paula. Sie haben gewonnen und ich freue mich sehr, dass Sie es sind.“
„Gewonnen? Was denn? Wie denn?“ Mit hängenden Armen, runden Augen und gespitzten Lippen stand sie in der Tür wie ein Kind, das in der Diele auf das Glöckchen des Christkindes wartet.
„Sie waren so schnell verschwunden, dass ich es Ihnen nicht mehr erzählen konnte. Nun, Sie haben jetzt einen neuen Hausgenossen.“
Die alte Dame wusste beim besten Willen nicht, wovon der Mann sprach, blickte von Rufus zum Transporter herüber, dessen Ladefläche verhängt war, hin zum winkenden Assistenten, und dann wieder zurück in Rufus` blitzende Augen. „Das da ist doch nicht...? Sie meinen doch nicht etwa....“
Rufus lachte. „Und ob ich das meine, liebe Paula. 55 Komma Null Null Kilo waren auf den Punkt genau geraten. Wir haben Ihre Schätzung notiert, und kein anderer Kunde ist heute an dieses Ergebnis herangekommen. Der weiße Thunfisch wiegt aber aufs Gramm genau 55 Kilogramm. Ein fetter Happen, das steht fest. Und damit, das darf ich stolz und mit Freude sagen, gehört er Ihnen. Viel Spaß mit dem Bastard.“
Die alte Dame sah Rufus ungläubig an und drängte sich dann an ihm vorbei zu dem Wagen im Hof. Der Gehilfe des Fischhändlers kniff gönnerhaft ein Auge zu und schlug die Plane zurück, als die alte Dame hinten an das Auto trat. Auf der Ladefläche stand mit Seilen festgezurrt der Bottich, dunkle Wasserlachen auf den Planken glänzten im frühen Abendlicht stumpf wie geronnenes Blut.
„Unglück im Glück, dass Sie noch die Seezunge gekauft haben. Hätten Sie sich schön sparen können. Damit...“, er stach mit dem Zeigefinger in Richtung der feuchten Ladung, „...können Sie nicht sechs, sondern sechzig Personen satt machen. Sollen wir Ihnen den Thun gleich hier filetieren? Gehört zum Service.“
Beide zogen wie abgesprochen gleichzeitig zwei lange, schmale Messer aus den Gürteln. „Wir machen das besser noch hinten im Wasser. Die feisten Viecher bluten wie die Schweine, und wir wollen ihren Vorgarten ja nicht in einen Schlachthof verwandeln, nicht wahr.“ Rufus stemmte ein Bein auf die Fläche des Transporters und machte Anstalten, sich hinaufzuziehen.
„Warten Sie.“
Die alte Dame hatte die Arme in die Hüften gestemmt und musterte nachdenklich das unverhoffte Geschenk. Ein leichter Wind kam auf und zwirbelte eine graue Haarlocke in ihre Stirn. Sie strich sie in einer eleganten fließenden Bewegung wieder glatt nach hinten. „Wieso haben Sie ihn nicht gleich mausetot angeliefert? Ich meine, er lebt doch noch, oder?“
Rufus zuckte die Schultern. „Wegen der Show. So ist es doch viel spannender. Als wir ihn verladen habe, um ihn zu Ihnen zu bringen, hat die halbe Stadt zugeschaut. War ein voller Erfolg, die Aktion. Also, jetzt kleinschneiden, oder wollen sie das ganze Tier? Vielleicht mit Sahne oben drauf?“
„Moment“, die alte Dame hob beschwichtigend die Hand. Und verharrte so. Sie dachte nach. Was sollte sie nur mit 55 Kilogramm Thunfischfleisch anfangen?
An die Nachbarn verteilen? Den Kindern als kleine Päckchen Pausenbrot mitgeben? Nein. Die alte Dame legte einen Finger an den Mund und starrte auf den Bottich, über dessen Rand ab und zu eine kleine Welle Wassers heraus schwappte und auf dem Boden klatschend in tausend Tropfen zersprang. Nein.
Sie erinnerte sich an die hoch aufgereckte Finne des Thuns, die ihr zum Abschied zugewinkt hatte. Ihr wurde warm. Das Segel der Erinnerung. Leben geben, ein Gruß an ein fernes Land, zu weit, zu verborgen und zu tief für ihre kleinen Füße. Ein Gedanke reifte in ihr, als ginge ein kleiner Mond auf. Noch war noch Zeit, bis es dunkel wurde.
„Er gehört jetzt mir? Und ich kann damit machen, was ich will?“
„Ja sicher.“ Rufus nickte. „Von mir aus können Sie ihn sich auch ausstopfen lassen und in die gute Stube hängen.“
Die alte Dame nickte entschlossen. „Gut. Dann lassen Sie uns fahren.“
„Fahren? Wohin?“
Die alte Dame war schon unterwegs zurück zur Veranda, wo ihr Rad lehnte. „Zum Strand. Am Pinienwald vorbei, Sie wissen schon. Dort stellen Sie mir bitte den Bottich ab. Direkt an den Strand.“ Sie verharrte und schaute so charmant zurück, wie sie konnte. „Sind Sie so lieb? Bitte!“
Rufus und sein Gehilfe wechselten einen resignierten Blick. „Hören Sie, Paula, das ist verrückt. Das hier ist kein Eichhörnchen oder Waschbär, den man so mir nichts, dir nichts zurück in die Freiheit setzen kann. Hey, das ist ein Fisch. Und ein großer noch dazu. Irgendwann erstickt er sowieso in diesem alten Fass. Ein Wunder, dass er überhaupt noch atmet. Wahrscheinlich ist er jetzt schon halb hinüber.“
„Hören Sie“, erwiderte die alte Dame geduldig. „Sie möchten doch nicht, dass die ganze Stadt erfährt, dass Sie es mit Ihren Werbeversprechungen und Geschenken nicht so ernst nehmen, oder? Also: bitte. Sie fahren voraus, ich folge.“
Rufus stöhnte, er sah plötzlich sehr müde aus und ließ sich erschöpft auf die Kante der Ablage sinken. Der Fischhändler zog ein kariertes Taschentuch heraus und wischte sich übers Gesicht. „Na gut, von mir aus. Aber dann kehren wir wieder um. Machen Sie doch da unten, was Sie wollen. Wir wollen schließlich alle noch irgendwann nach Haus.“
„Genau das ist der Plan“, flötete die alte Dame fröhlich und fasste den Fahrradlenker fester. „Genau das.“



Es war nicht schwer gewesen, die beiden Männer zu überreden. Gegen die ernste Entschlossenheit der alten Dame gab es kein Mittel. Rufus und sein Assistent, dessen Name sie immer noch nicht kannte oder längst wieder vergessen hatte, murrten zwar und waren seltsam befremdet von dem Vorhaben der alten Dame. Aber den Fisch in seinem Plastikbottich zum Strand zu fahren und ihn schließlich in der Brandung abzustellen kostete durchaus weniger Arbeit und Anstrengung, als ihn vor der Haustür der Dame zu töten und zu zerlegen. Realistisch betrachtete, war es für die Männer noch die beste Lösung für einen schnellen Feierabend. Sollte die alte Dame doch mit dem Fisch tun und lassen, was sie wollte. Was ging es sie an. Und so hievten sie gemeinsam, unter etwas Stöhnen und Schimpfen, den Trog auf die Kiesel, während das Meer bereits ihre Stiefel leckte. Sie fluchten nur zischend, weil die Schuhe nass wurden und rieben sich hernach demonstrativ den schmerzenden Rücken. Mit schüttelnden Kopfen nahmen sie etwas Trinkgeld entgegen und zögerten dann doch, nervös von einem Bein auf das andere tretend. Ob sie wirklich gehen sollten, wollten beide wissen. Und ob sie sich das auch gut überlegt habe. Der Plastikzuber sei sicher zu schwer für sie, um ihn umkippen zu können. In dem Alter, wie Rufus mit einem schiefen Lächeln anfügte. Sie solle es ihm nicht übelnehmen. Doch die alte Dame wies jeden Einspruch souverän ab, blieb standhaft und bezaubernd stur. So lang, bis sich Rufus und sein Gehilfe endlich fügten. Mit der Ankündigung, er werde den Bottich nächste Woche wieder abholen, es sei wie bei Pfandflaschen, nur etwas größer, verabschiedete sich Rufus recht hurtig, nachdem die alte Dame sein allerletztes Angebot zur Hilfe, den Fisch an die frische Luft zu setzen, weiterhin höflich, aber bestimmt abgelehnt hatte. Es war schließlich Samstag und schon spät. Seit dem frühen Morgen hatten die beiden Männer auf dem Markt gearbeitet und sehnten sich jetzt, endlich zu ihren Familien zu kommen.
So wie ich, dachte die alte Dame lächelnd und schaute sich um. Mit gefalteten Händen im Schoß stand sie neben dem Bottich am Strand unter ihrem Haus. Das rote Dach lugte gerade noch über die Steilküste, als hielte es wachsam nach ihr Ausschau. Ihr altes Rad lag einsam abgelegt auf der kleinen Erhebung, die die Brandung vom Strand trennte. Sie war allein und fühlte sich so glücklich wie lange nicht mehr. Welch ein Geschenk! Wie viel Leben gedrängt in den einen Tag, der ihrer Liebe gewidmet war. Wenn die See ihr nicht wiederbringen wollte, was sie so lang entbehrte, dann gab sie eben dem Ozean etwas zurück, was er verloren hatte. Es gab andere, Witwen wohl, die mit Gummihandschuhen Disteln aus den Beeten seines Grabes rupften, die Moos von seinem Stein kratzen und Lilien quer über seinen Namen legten, für die Ewigkeit eingemeißelt in goldgefärbten Lettern.
Sie gab einen Fisch, einen lebenden Fisch. Die alte Dame legte die Hand an die Wand des Zubers und betrachtete den muskulösen Rücken des Fisches, der schaukelnd im Wasser trieb. Und sie schickte diesen Fisch hinein in ein Grab, das so groß war wie die Welt. Hinein in ungeahnte Abgründe, atemlose Weiten, in ein unsagbares Blau. In das wunderschöne Land, das ihm gehörte. Wie armselig und kleinmütig waren dagegen die seichten Gruften auf festem Land, wo alles seine Grenzen hat und sich Gewissheit in Zäunen und Hecken messen lässt.
Der Bottich stand schon gefährlich schräg im weichen Untergrund, die ersten Wellen brachen sich bereits an seinem unteren Rand. Die alte Dame stellte sich breitbeinig hinter dem Kübel auf und begann, sich gegen den Rand zu stemmen.
Der schwere Behälter war zuerst tatsächlich leichter zu bewegen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Schmatzend grub sich die vordere Seite tief in den weichen, nassen Sand, der nachgab wie warme Butter. Sie ruckelte, was ihre schmalen Arme hergaben, und ihre Hacken stießen Halt suchend hinten in den Kies. Vom äußeren Rand platschte und spritzte das Wasser aus dem Bottich, als wühlte es ein Schwarm Bonitos auf, die von Delfinen gejagt werden. Der Thun hob seinen Kopf in erstickter Angst, als risse ihn die Panik aus seiner Hilflosigkeit. Die alte Dame atmete schwer, aber ihr Wille zwang sie zur letzten Anstrengung. Noch ein Stoß, ein schmerzhaftes Reißen zurück, dann wieder nach vorn. Nein! Sie würde es nicht schaffen. Es war zu schwer. Der Behälter bewegte sich nicht mehr; wie ein gegossener Block Zement stand er in der Brandung. Die Frau unterdrückte ein Weinen, als sie jetzt, schon fast kraftlos, versuchte, den Behälter wieder zurückzuzerren und spürte, dass der entscheidende Stoß nach vorn nicht gelingen würde. Es war zu schwer für sie.
Was hatte sie sich nur eingebildet! Sie drückte verzweifelt, rutschte mit feuchten Händen ab und prallte mit der schmalen Schulter auf die Kante. Es tat weh, als wäre ein grober Splitter eingedrungen, als sei etwas in ihr zerrissen. Es war das Ende, es würde nicht gelingen. Das Wasser wies ihre Gabe ab. Schräg lehnte sie auf der Wand des Bottichs. Sie stöhnte laut auf und neigte verzweifelt den Kopf. Der Kampf war beendet. Sie hatte verloren.
Der Thunfisch sprang. Ein mächtiger Schlag mit der Schwanzflosse trieb das verängstigte Tier steil in den Himmel. Seine massigen Muskeln drehten sich wie eine aufgezogene Spirale ineinander, um mit einer kräftigen Drehung aufzuschnellen. Er schoss aus dem Wasser wie ein Torpedo, drehte sich noch einmal um seine eigene Achse, als wolle er wütend einen Haken im Maul abschütteln und krachte wuchtig in die Gischt.
Ungläubig keuchend stützte die Frau die Hände auf die Knie, die Haare klebten ihr feucht im Gesicht, die Füße bis zu den Knöcheln bereits in der Strömung.
Der Thunfisch, selbst halb im Wasser, mühte sich verängstigt, vorwärts zu kommen, wankte, drehte und wandt sich wie ein Korkenzieher, im Kampf, die rettende Tiefe zu erreichen. Jetzt war er es, der nicht mehr vorankam, die Bewegungen des ermatteten Fisches wurden immer langsamer. Da erst stolperte die Frau hinein ins Wasser und griff zu. Sie fiel auf die Knie, umarmte den Fisch wie einen Geliebten und schleppte ihn hinaus. Die Anstrengung, die Kälte ließ sie am ganzen Körper zittern und Wellen netzten ihre Hüften. Immer wieder riss sich der Fisch los, auch er starr den Blick auf den weiten Horizont gerichtet. Hinaus, hinaus, wo Leben ist. Und die Frau schlang wieder und wieder ihre Arme um seinen Leib, warf sich spritzend hinein in die blau-grünen Wirbel, die sie umzuwerfen drohten und bald über ihrem Kopf zusammenschlugen. Prustend kam sie hoch, schluckte Wasser. Sie weinte, lachte, stöhnte, schrie gleichzeitig und zog den Fisch dorthin, wo kein Grund mehr war, kein Stand, nur noch Loslassen und Schweben, als er keinen Sand und keine Steine mehr unter seinem Bauch spürte und mit einem harten Schlag vorwärts stieß, wie ein Rammbock der die letzte Tür gewaltig sprengt und mit Wucht ins Leere platzt.
Das Mädchen aber zog er mit sich, eng umschlungen mäanderten sie der blauen Tiefe entgegen. Sie schmiegte sich an den schwimmenden Fisch, die Augen geschlossen, spürte sie den schlagenden Rhythmus seiner Bewegungen und ihr Herz schlug mit. Sie lächelte - dann ließ das Mädchen los.


Anmerkungen:
17. Juli 2009
Wer mehr von dem Autor lesen möchte, kann dies in seinem Roman "Der Pakt der Mäuse".


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

Wie wäre es mit ...

Die Chroniken von Toronia – Das verlorene Reich (J. D. Rinehart); Band 2

Eine schicksalhafte Prophezeiung, dunkle Familiengeheimnisse und ein erbitterter Kampf für Frieden und Gerechtigkeit: Nur die königlichen Drillinge können die Schreckensherrschaft über Toronia beenden, und sie müssen dafür ihren eigenen Vater stürzen. Doch der bereits Totgeglaubte ist wieder auferstanden – und er schart eine Armee von Untoten um sich …       Originaltitel: Crown of Three. The Lost Realm Autor: J. D. Rinehart Übersetzer:  Friedrich PflügerVerlag: Fischer Sauerländer Erschienen: 10/2016 ISBN: 978-3-7373-5324-3 Seitenza...

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